Nur für den internen Gebrauch als Unterrichtsmittel in EW

Dietrich Eggert

 

Abschied von der Klassifikation von Menschen mit geistiger Behinderung

Der Paradigmenwandel in der Diagnostik und seine Konsequenzen

Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft, 19. Jahrgang, Heft 1/1996, Seite 43 - 64

1. Zielsetzungen und Einleitung

Mit dem vorliegenden Text soll der Versuch unternommen werden, einen Wandel in den Vorstellungen zu beschreiben, der sich auf die Diagnose von Menschen mit einer "geistigen Behinderung" bezieht. Das Fazit wird später sein, daß Etikettierungen und Klassifikationen nicht mehr angemessen sind, um Menschen in ihrer Individualität beschreiben zu können.

Die folgenden Diagnosen entstammen realen Berichten:

 

Auf die Krankheit Schwachsinn hat sich Schizophrenie aufgepfropft. Es zeigt sich ein Defektsyndrom, das sich in der flachen Heiterkeit und auch in der Kontaktschwäche äußert. Eine Unterbringung in einer Anstalt scheint erforderlich.

 

Diagnostisch handelt es sich um eine Intelligenzminderung an der Grenze zwischen Imbezilität und Idiotie. Gleichzeitig besteht eine Gehbehinderung.

 

Diagnostisch handelt es sich um eine Intelligenzminderung vom Grad einer schweren Imbezillität im Rahmen eines Morbus Langdon-Down. Die Sprache ist sehr verwaschen und schwer zu verstehen.

 

Diagnostisch handelt es sich um eine Debilität nach frühkindlicher Hirnschädigung mit erethischen Verhaltensweisen. Z. T. wird an den Fragen vorbeigeredet. Deutliche Logorrhoe. Aggressionstendenzen. Anstaltunterbringung auf Dauer.

 

Diese Beispiele gehören nun keineswegs zu Akten der 50er Jahre, sondern entstammen den Akten einer Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung aus dem Jahre 1995 (!); sie finden heute Verwendung, um Menschen als "oligophren" zu beschreiben. Die veralteten Begriffe sind dabei nicht nur ein Problem eines altmodischen Sprachgebrauchs. In diesen psychiatrischen Diagnosen findet sich eine Sprachgebung, mit deren Wurzeln wir uns später beschäftigen wollen. Soviel vorweg: eine solche Beschreibungsweise erscheint wenig informativ und unangemessen.

 

Es geht mir bei den folgenden Betrachtungen darum, den sogenannten Paradigmenwechsel in der Diagnose der geistigen Behinderung zu beschreiben. In den letzten zwanzig Jahren haben sich tiefgreifende Veränderungen im Denken über das Wesen der geistigen Behinderung ergeben, die sowohl die theoretische Reflexion als auch das praktische Handeln mit Menschen verändert haben.

 

International ist De-Institutionalisierung oder Integration oder das gemeinsame Leben behinderter und nichtbehinderter Menschen zu einem machtvollen Programm geworden, das sich in Weltorganisationen in internationalen Erklärungen (Salamanca-Erklärung[1] der UNESCO von 1994 und Ottawa-Erklärung der WHO von 1986) findet.

 

Später möchte ich meine Betrachtung auf diagnostische Handlungsstrategien und Methoden ausweiten und die Konsequenzen des Paradigmenwandels für die Diagnostik zu beschreiben versuchen. Welche diagnostischen Ansätze scheinen den Veränderungen angemessen? Welche neuen Entwicklungen sind denkbar? Zu diesen Veränderungen gehören die Folgen des amerikanischen Anti-Etikettierungs-Ansatzes, dem es u.a. um eine neue Bewertung der Sinnhaftigkeit von Klassifikationen für die Lebenssituation von Menschen mit geistiger Behinderung generell ging. Wichtig ist mir in diesem Zusammenhang weiter auch eine Neubetrachtung der für die Diagnose und Klassifikation von Menschen mit geistiger Behinderung verwendeten Methoden, die sich bislang vorwiegend auf Theorien der klassischen Testkonstruktion bezogen und normativ vorgingen. Hier hat sich ein konsequenter Wandel von den quantitativen und normativen Methoden zur qualitativen Einzelfallbeschreibung ergeben. Hier soll mein Plädoyer sein, auf die Anwendung derartiger Testverfahren bei Menschen mit geistiger Behinderung zu verzichten.

 

Zur Einleitung möchte ich kurz versuchen, einige Begriffe zu definieren, die im Text häufig verwendet werden:

 

Grundbegriffe

 

Geistige Behinderung (international: mental retardation, mental handicap)

Sammelbegriff für sehr unterschiedliche Formen kognitiver und sozialer Kompetenz-Probleme von Menschen mit Entwicklungsstörungen unterschiedlicher Ursache.

Integration: Oberbegriff für alle Bemühungen für das gemeinsame Leben von behinderten und nichtbehinderten Menschen Gegensatz: Segregation oder Aussonderung. Behinderte bevorzugen den Begriff der Emanzipation.

Nicht-Aussonderung: Vor allem von Elternvereinigungen bevorzugter Begriff für gemeinsamen Unterricht behinderter und nichtbehinderter Kinder in Deutschland.

Inklusive Erziehung: neuer internationaler Begriff für gemeinsamen Unterricht behinderter und nichtbehinderter Kinder in der Schule.

Normative Diagnostik: Bewertung und Einordnung nach quantitativen Testwerten.

Klassische Testtheorie: Basistheorie der Intelligenzmessung.

Qualitative Diagnostik: beschreibend und verstehend, individuell vorgehend.

Special needs: besondere Bedürfnisse von Kindern in der Schule. Im Deutschen: besonderer, individueller oder sonderpädagogischer Förderbedarf.

Normalisierung: Ziel der Integration. Kann auch mit "alltägliches gemeinsames Leben" umschrieben werden.

Mainstreaming: gemeinsamer Unterricht "im Hauptstrom" der allgemeinen Schule unter Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse einzelner Schüler in den USA.

Anti-Labelling-Approach = Anti Etikettierungs Kampagne (Mercer, 1973): Bewegung gegen die (diskriminierende) Verwendung von Klassifikationen und typologisierenden Beschreibungen.

LRE = Least restrictive environment: am wenigsten einschränkende Lernumwelt; Ziel der Diagnose in den USA. Im Deutschen als "am besten geeigneter Lernort" leicht mißverstanden.

IEP = Individueller Entwicklungsplan: die Aufstellung individualisierter Förder- und Entwicklungspläne für Kinder mit besonderen Förderbedürfnissen (Sepcial needs) in der allgemeinen Schule.

 


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2. Traditionelle Sichtweise: Klassifikation der Oligophrenie

Schon früh im 19. Jahrhundert begann sich für den "Blödsinn" oder die "Geistesschwäche" der wissenschaftliche Begriff der Oligophrenie durchzusetzen, der um die Jahrhundertwende dann mit "Schwachsinn" gleichgesetzt wurde.

 

Oligophrenie bezeichnet angeborene oder frühzeitig erworbene Intelligenzdefekte und wird von der Demenz, den später erworbenen Intelligenzstörungen unterschieden.

 

Idiotie - schwere Oligophrenie

Imbezillität - mittlere Oligophrenie

Debilität - leichte Oligophrenie

 

Das Bedürfnis nach einer Klassifikation von Menschen nach Krankheitsbildern wie der Oligophrenie ist alt. Schon in der Kontroverse der Ärzte Itard und Pinel um die Erziehung von Victor, dem "Wildkind von Aveyron" um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert, spielte die Frage der Einordnung des Erscheinungsbildes eine entscheidende Rolle. Pinel (1745-1826) war der Ansicht, daß es sich bei Victor um eine unheilbare Idiotie handele ("unheilbarer Idiot, tieferstehend als Haustiere"), während der jüngere Itard (Jean Marc Gaspard Itard,1774-1838) davon ausging, daß Victors Verhalten durch pädagogische Vernachlässigung und Isolierung entstanden sei und daß er durch angepaßte Methoden erzogen und gebildet werden könne. Dies ist übrigens bis in unsere Tage hinein der Kern der in der Behindertenpädagogik und Rehabilitationsmedizin vertretenen unterschiedlichen Auffassungen, ob nämlich das Phänomen einen konstanten Defekt darstellt oder durch Entwicklung und Erziehung veränderbar ist (nach Eggert, 1990).

 

Esquirol, 1816, kannte 5 Krankheitsbilder: 1. die Melancholie, 2. die Monomanie, 3. die Manie, 4. die Verwirrtheit und 5. die Idiotie. Er sprach aber bereits damals davon, daß diese Beschreibungen keineswegs einheitlich verstanden würden. Unter Idiotie verstand er übrigens eine "chronische Gehirnaffection ..., die sich durch Störungen der Sensibilität, der Verstandestätigkeit und des Willens charachterisiert." Mangelnde Steuerungsfähigkeit der Emotionen, herabgesetzte Verstandestätigkeit und Unerziehbarkeit sind das Merkmal der Idiotie, die seiner Ansicht nach nicht heilbar sei (Esquirol, 1838, 112).

 

Esquirol äußert an anderer. Stelle übrigens auch schon Bedenken in der Frage, ob denn "die Isolierung" stets "als erstes Hauptmittel bei der Behandlung" anzusehen sei - m. E. eine erste Überlegung zu unserem Thema des gemeinsamen Lebens von Behinderten und Nichtbehinderten. "Aber kann nicht aus dem Zusammenwohnen der Geisteskranken das entstehen, daß sie sich gegenseitig schaden; und würde nicht der verständigste Mensch ein Narr werden, wenn er gezwungen wäre, mit Geisteskranken zu leben? ... Aber es gibt doch Geisteskranke, die in ihrer Familie verbleiben und dennoch heilen ... Aber ich sage noch mehr. Die Isolierung war bei einigen Geisteskranken von sehr übler Folge. Was soll man hieraus schließen?" (Esquirol, 1838, 126) Seiner Ansicht nach sei es Aufgabe des Arztes, sorgfältig nachzudenken und weise zu entscheiden, wann "Isolierung" angemessen sei. Diese Bedenken waren seinen Nachfolgern nicht zu eigen, denn es entstanden schon früh im 19. Jahrhundert die großen Anstalten für Blödsinnige in Europa.

 

Die Kontroverse zwischen defektorientierten und entwicklungsorientierten Erklärungen blieb für die weitere Betrachtung der Menschen mit geistiger Behinderung bestimmend. Faszinierend ist dabei, daß in Deutschland schon um die Jahrhundertwende entwicklungsorientierte Positionen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts z. B. von Kern, Saegert und Landenberger (nach Dannemann, Schober, Schulze - 1911, 1457ff.) fast vollständig in Vergessenheit geraten waren.

 

Meyer, 1973, schildert sehr anschaulich, daß im 19. Jahrhundert unter dem Begriff des "Blödsinns" oder "Schwachsinns" weit divergierende Begriffe verwendet wurden, die oft sehr stark von den speziellen Einrichtungen geprägt waren, in denen die Ärzte und Pädagogen arbeiteten ("Erforschung und Therapie der Oligophrenien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Meyer, 1973)[2].


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3. Zur weiteren Entwicklung der Klassifikationen

Der Schwachsinns-Begriff der Jahrhundertwende beherrschte die Diskussion auch noch in den zwanziger und dreißiger Jahren und später in fataler Weise weiter. So hat Lazar (1925, 92) eine dem Zeitgeist entsprechende Schwachsinnsdefinition gegeben, die uns heute völlig negativ erscheint und ein vorwiegend defektorientiertes Menschenbild beschreibt. "Es ist einerseits erklärlich, daß bei einem intellektuell Defekten die Charaktereigenschaften klar zu Tage treten, weil eine Korrektur durch den Verstand wie sie dem Normalen zur Verfügung steht, nicht möglich ist ...man findet daher bei Schwachsinnigen alle nur denkbaren Reize und Ausfallserscheinungen neben ihrem intellektuellen Defekt, und zwar in der Regel besser ausgeprägt als man es bei den geistig Vollwertigen gewöhnt ist." Der Kern dieser Schwachsinnstheorie ist die Annahme einer miteinander verbundenen negativen Abweichung der Intelligenz und des Charakters bis hinab zu "Karikaturen von Menschen (Lazar, 1925, 92)". Diese negative inhumane Konzeption wirkte übrigens noch relativ lange nach. Ähnliche Vorstellungen fanden sich noch bis in die 70er Jahre in Verordnungen zur Umschulung in die Sonderschule in Deutschland. So schreibt noch 1968 der Psychologe Wegener: "Die Persönlichkeit des Debilen ist global verändert ... eine Intelligenzschwäche bleibt kein partieller Defekt, sondern beeinflußt das Gesamtverhalten des Betroffenen im Sinne einer 'Gesamtseelenschwäche'. Es wird angenommen, daß das Gefühls- und Willensleben der Debilen durch ihre geistige Insuffizienz erheblich beeinflußt ist und daß auch das Sozialverhalten weitgehend abhängig von der Intelligenz des Individuums sei, daher folgen der intellektuellen Schwäche fast immer auch Anpassungs- und Einordnungsschwierigkeiten." (Wegener, 1968, 515 in: von Bracken, 1968). In bezug auf die Möglichkeiten einer Unterteilung der Schwachsinnsformen schrieb aber schon in den sechziger Jahren der Psychiater Weitbrecht, 1963 (Schüler Kurt Schneiders): " Was Schwachsinn ist, ist gar nicht so leicht zu bestimmen. Die hübsche Definition Kreapelins, Schwachsinnige seien Leute, in deren Gehirn nicht viel los ist, trifft zwar das wesentliche durchaus, wird aber zweifellos wissenschaftlich nicht für "seriös genug" gehalten. (Wissenschaftliche) Definitionen der Intelligenz ... besagen im Grunde nichts anderes ... (Weitbrecht, 1963, 173).

 

Etwas vorher heißt es auch:

 

"Die altehrwürdigen klinischen Begriffe: Debilität, Imbezillität und Idiotie stellen keine Differentialdiagnosen dar. Am besten würde man ganz auf sie verzichten. Sie bezeichnen nichts anderes als einen Schweregrad der Ausfälle, und es genügt vollauf, von leichtem, mittlerem und schwerem Schwachsinn zu sprechen."

 

Dennoch hat sich der Begriff der Oligophrenie mit seinen Unterteilungen als sehr zählebig erwiesen. Er findet sich so z.B. in Lexika der Medizin der 90er Jahre wieder (Pschyrembel,1994 und Boss, 1995).

Mit relativ starker zeitlicher Verzögerung sind in Deutschland andere Konzepte rezipiert worden. Man muß sich vor Augen halten, daß zu dem Zeitpunkt, an dem Heinz Bach (1974) noch von den "multidimensionalen Schädigungen" des geistig Behinderten und einer IQ - Klassifikation spricht, bereits Heber (1964) in den Staaten jegliche pauschalierende Charakterisierung der Personengruppe der geistig Behinderten abgelehnt hatte: "Den geistig Behinderten werden eine große Zahl von unerwünschten Persönlichkeitscharakteristiken zugeschrieben. Die Behinderten sind als zur Kriminalität und Verwahrlosung neigend, als defekt in der Kontrolle des Über-Ich, als unfähig zur Hemmung biologischer Grundtriebe (Eßdrang), als von gesteigerter Sexualität besessen und als Personen mit niedriger Frustrationstoleranz beschrieben worden. Man hat sie als suggerierbar, rigide, emotional labil, ängstlich, passiv und zurückgezogen und als aggressiv und feindselig beschrieben. Autoren, die solche Verallgemeinerungen machen, zitieren selten die Quellen ihrer Kenntnisse. Häufig werden die der Gruppe zugeschriebenen Charakteristika nicht definiert." (Heber, 1964).

 

Daß zudem die damals vorliegende Forschung über die Persönlichkeit geistig behinderter Menschen wenig originäre Resultate vorzuweisen hatte, hat schon Spreen 1978 bemerkt: "In der Tat ist über die Persönlichkeit geistig Behinderter erst so wenig geforscht worden, daß nur wenige Schlußfolgerungen definitiver Art gezogen werden können" (Spreen, 1978, 78). Es scheint aus heutiger Sicht unverständlich, wie auf der Grundlage nur weniger Untersuchungen so weitreichende negative Schlußfolgerungen in bezug auf das Phänomen der geistigen Behinderung gezogen werden konnten.

 

Seit den 70er Jahren haben sich andere Denkvorstellungen durchgesetzt. Trotzdem halten sich hartnäckig sehr stereotype Vorstellungen "vom Wesen des Oligophrenen" (Eprecht & Ritz, in Bartz, 1977, 163): "Diese geistig Invaliden sind in den meisten Fällen sehr anhänglich, liebebedürftig, oft rührend in ihrer Anteilnahme; sie können aber auch überaus widerspenstig, bockig, jähzornig werden." Und an anderer Stelle heißt es: "So werden unsere Bemühungen, ihm etwas beizubringen, oft der Dressur näherstehen als der üblichen Erziehung." Diese Feststellungen sind bestenfalls Vorurteile.


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4. Versuche einer wissenschaftlich begründeten Klassifikation

Das Problem der diagnostischen Erfassung der "geistigen Behinderung" hat in Psychologie, Behindertenpädagogik, aber auch Kinder- und Jugendpsychiatrie eine Reihe von wissenschaftlichen Entwicklungen mit besonderer Bedeutung für die alltägliche Praxis beeinflußt. Dabei haben sich Klassifikationen auf der Grundlage psychometrischer Diagnosen als ein Irrweg erwiesen, und dies nicht nur in bezug auf die praktische Anwendung der bislang vorgeschlagenen Kriterien. Internationale Klassifikationssysteme psychischer Krankheiten folgten den damals vorherrschenden Vorschlägen, Werte von Intelligenztests als Grundlage einer Unterscheidung in "mäßigen, leichten, mittleren und schweren Schwachsinn" zu benutzen. Trotz der schon in den 60er Jahren geübten Kritik an der an den Intelligenzbegriff gebundenen Definition der geistigen Behinderung wurde auch in den weiteren Revisionen der ICIDH an der herabgesetzten Intelligenz als zentralem Merkmal der geistigen Behinderung festgehalten. "Die Erfassung des intellektuellen Niveaus sollte auf der Grundlage aller möglichen erfaßbaren Informationen erfolgen, wozu klinischer Eindruck, Anpassungs-Verhalten und psychometrische Daten gehören. IQ-Messungen erfolgen auf der Grundlage von Tests mit einem Mittelwert von 100 und einer Standardabweichung von 15, wie z. B. den Wechsler-Tests. Sie sollten lediglich als Orientierung dienen und nicht starr angewandt werden" (WHO 1975). Dies ist jedoch nie befriedigend gelungen, wie wir später zeigen werden. Entweder wurden die Werte starr interpretiert oder lediglich nur von Fall zu Fall zur nachträglichen Rechtfertigung des Vorgehens herangezogen. In den 70er Jahren wurden so in Deutschland nur gut ein Drittel aller geistig behinderten Menschen in Schulen oder Heimen tatsächlich überhaupt je mit psychodiagnostischen Verfahren untersucht. Die obige Definition scheint also praktisch nicht vollständig angewendet worden zu sein (Eggert & Bremer-Hübler; 1990)[3].

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

KLEBER

(1973)

TERMAN

(1916)

WHO

(1974)

BACH

(1975)

BONDY[4]

(1956)

Hauptschule

90 - 110

Dullness

80 - 90

 

 

 

Lernbehinderung

70 - 90

Borderline

70 - 80

 

 

Leichte Intelligenzschwäche

70 - 84

Geistige Behinderung

<20 bis 70

Debilität

50 - 70

Leichte Geistesschwäche

50 - 69

Lernbe-hinderung

55 - 75

Mäßige Intelligenzschwäche

55 - 69

 

Imbezille

20 - 50

Mittlere G.

20 - 49

Geistige Behinderung

<20 bis 55

Schwere Intelligenzschwäche

40 - 54

 

Idioten

<20

Schwere G.

0 - 19

 

 

 

Tabelle 1: Einteilung der geistigen Behinderung nach Intelligenz-Quotienten

 

 

Die Versuche einer psychologischen Definition der geistigen Behinderung anhand von Intelligenzquotienten waren wenig praktikabel, weil sie von sehr unterschiedlichen Grenzwerten ausgingen und weil sich einige methodische und technische Probleme der Intelligenzmessung als nicht überwindbar erwiesen. Man hätte sich damit eigentlich schon Ende der 60er Jahre konsequent vom IQ als Klassifikationskriterium verabschieden können. Daß es heute noch nötig ist, intensiv auf die relative Unbrauchbarkeit des IQ für die Diagnose von Menschen mit geistiger Behinderung einzugehen zeigt, welches Beharrungsvermögen auf ungeeigneten, aber sehr praktikablen Methoden die gegenwärtige Diagnostik auszeichnet. Im Zusammenhang mit der zunehmenden Einführung des gemeinsamen Unterrichts in die Schulgesetze und Erlasse der Bundesländer in Deutschland hat sich um die Frage, wie brauchbar der Einsatz von Tests ist, wieder ein - fast anachronistisch anmutender - Kampf zwischen Testbefürwortern und Testgegnern aufgebaut.

 

Die obenstehende Tabelle zeigt im Vergleich verschiedene Einteilungen des Grades der "Geistesschwäche" oder der "geistigen Behinderung" nach IQ-Werten. Die Grenzwerte sind relativ willkürlich, unterscheiden sich stark voneinander und reichen sehr weit auf der IQ-Skala. Der Vorschlag von Kleber (1973), den Bereich der Lernbehinderung bis zu einem IQ von 90 zu erstrecken, hätte in der Praxis bedeutet, daß bis zu 25% der Bevölkerung als "lernbehindert" definiert worden wären (IQ 90 entspricht einem Prozentrang von 25).

 

Es stand übrigens schon in den 70er Jahren fest, daß nicht nur die sehr uneinheitlichen Grenzwerte eine verläßliche Klassifikation unmöglich machten, sondern daß darüberhinaus eine Fülle von technischen Problemen der sehr unvollkommenen Technologien der Intelligenzmessung letztlich unüberwindbare Schwierigkeiten darstellten.

 

Kritik an Intelligenztests aus der Sicht praktischer Persönlichkeitsdiagnostik[5]

 

  1. Ein Intelligenztest stellt nur eine begrenzte Stichprobe von Aufgaben aus dem Bereich des Problemlöseverhaltens dar (Sarason, 1959)
  2. Die tatsächliche soziale Einordnung von Menschen entspricht nicht immer dem IQ-Niveau (Tredgold, 1952)
  3. Intelligenztestwerte zeigen stets eine gewisse Fluktuation. Ein variierender IQ kann aber nicht die Basis einer zuverlässigen Klassifikation sein.
  4. Die Grenzwerte für IQn bei verschiedenen Klassifikationen sind relativ willkürlich gesetzt. Bei verschiedenen Autoren finden sich z. T. erhebliche Unterschiede in den Grenzwerten.
  5. Alle gängigen Intelligenztests genügen teststatistischen Gütekriterien meist nur im mittleren Bereich der IQ - Verteilung. Meß- und Schätzfehler sind in den Extrembereichen sehr groß
  6. Gängige Intelligenztests stimmen nur in einem mittleren Ausmaß überein (Korrelationen um max. 0,60 = ca. 36 % gemeinsame Varianz). Unterschiede zwischen zwei Tests sind die Regel und nicht die Ausnahme.

 

Fazit: Keine befriedigende Grundlage für Diagnose und Klassifikation

 

Bei dieser unzureichenden Qualität der diagnostischen Methoden war damit für die wissenschaftliche Diskussion deutlich, daß die Methodologie der Tests nicht für eine Klassifikation geeignet war, und in den neueren Klassifikationssystemen verringerte sich sehr stark die Bedeutung der Testdiagnostik für Menschen mit geistiger Behinderung - leider jedoch zuerst einmal im angelsächsischen und skandinavischen Raum und weniger in den deutschsprachigen Ländern, in denen sich trotz zunehmender inhaltlicher und formaler Kritik eine relativ große Gruppe von Testbefürwortern erhalten hat.

 

Auch in den internationalen Klassifikationssystemen drückt sich der beschriebene Wandel aus. So hat das ICIDH-System (1986) sich zum Beispiel von einer Klassifikation der geistigen Behinderung weg zu einem System entwickelt, in dem bestimmte Fähigkeitsstörungen als Beschreibungsmerkmale in den Vordergrund treten, um Beeinträchtigungen, Fähigkeitsstörungen und Schädigungen unterscheiden zu können.

 

Das DSM-III-R-System (Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen, deutsch von Wittchen u.a., 1991) faßt "geistige Behinderung" unter der Kategorie der "Entwicklungsstörungen".

 

Entwicklungsstörungen: Hauptmerkmale sind vorwiegend Auffälligkeiten beim Erwerb von kognitiven, sprachlichen, motorischen und sozialen Fertigkeiten. Die Störung kann sich in einer generell verzögerten Entwicklung ausdrücken, beispielsweise in einer geistigen Behinderung ...

 

Geistige Behinderung: Hauptmerkmale dieser Störung sind: (1) deutlich unterdurchschnittliche allgemeine intellektuelle Leistungsfähigkeit (ein IQ von höchstens 70) bei (2) gleichzeitig gestörter oder eingeschränkter Anpassungsfähigkeit (Erfüllung sozialer Normen, die sein soziales Umfeld für Personen seines Alters erwartet), und (3) Beginn vor Vollendung des 18. Lebensjahres.

 

Der Verlauf einer geistigen Behinderung ist sowohl abhängig von einer zugrunde liegenden verursachenden Erkrankung als auch von Umweltfaktoren, wie zum Beispiel der Erziehung und anderer Bildungsmöglichkeiten, Stimulation durch die Umwelt und dem geeigneten Umgang mit der Störung selbst.

 

... Die Prognose der geistigen Behinderung hat sich in den letzten Jahren enorm verbessert. Die meisten geistig behinderten Menschen fügen sich heute im Rahmen ihrer Möglichkeiten gut in das soziale Leben ein ... In diesen Fällen kann die Diagnose einer geistigen Behinderung nicht länger gerechtfertigt sein.

 

Das Manual bezieht sich noch darauf, daß das Hauptmerkmal einer geistigen Behinderung eine deutlich unterdurchschnittliche allgemeine intellektuelle Leistungsfähigkeit bei einem IQ von höchstens 70 sei, führt aber gleichrangig damit die gestörte oder eingeschränkte Anpassungsfähigkeit auf. Vor allem in den Aussagen über die Prognose wird dabei der Boden traditioneller Vorstellungen verlassen, wenn z.B. festgestellt wird, daß die Diagnose einer geistigen Behinderung unter bestimmten Bedingungen nicht länger gerechtfertigt sein könnte. Damit wird das bislang gültige Konstanzparadigma verlassen, nach dem bislang geistige Behinderung als ein "unveränderbares Phänomen" betrachtet wurde.

 

In der angelsächsischen Literatur hat man schon relativ früh die geringe Brauchbarkeit komplexitätsreduzierender Klassifikationen gesehen. So meint Spreen 1978 schon, daß "Klassifizierungssysteme wie die Schubladen in einem Karteikartensystem sind. Sie helfen bei statistischen Übersichten und oberflächlichen Gruppierungsversuchen. Ihr Nachteil liegt darin, daß die Individualität des einzelnen Behinderten verlorengeht, es sei denn, man nimmt sich die Zeit, den Einzelfall gesondert zu betrachten. Klassifizierungssysteme verleiten zu der Auffassung, daß die darin enthaltenen Gruppen wirkliche Einheiten sind. Diese Auffassung ist vielleicht berechtigt, wenn man organisatorischen Problemen einer größeren Gruppe gegenübersteht. Für den mit zwölf geistig Behinderten arbeitenden Psychologen, Arzt oder Sozialarbeiter wird es jedoch schnell klar, daß man zwölf Individuen gegenübersteht, die in ihrer Wesensart, in den Formen ihrer Einsicht und in ihrem Anpassungsvermögen höchst unterschiedlich sind, auch wenn sie in der Statistik als "homogene Gruppe" erfaßt und kategorisiert wurden (Spreen, 1978, 5). Auch das "klassische" Lehrbuch der amerikanischen Psychologie der geistigen Behinderung von Robinson und Robinson (19762) drückt dies aus:

 

"Der Karteikastenansatz hat daher nur begrenzte Möglichkeiten. Der Psychologe widmet statt dessen seine Anstrengung der Beantwortung der spezifischen Fragen, mit denen das Kind erstmals seine Aufmerksamkeit beanspruchte, beschreibt seine gegenwärtigen Schwierigkeiten exakt und formuliert mehr oder weniger präzise Handlungspläne. Es scheint jedoch klar, daß die Zeit sich deskriptiven Bewertungen zuwendet. Viel Anstrengung wurde vergeudet mit Definieren, Kritisieren, Neudefinieren stark übersimplifizierter Benennungen".

 

Mercer (1973) hat darauf hingewiesen, daß der Begriff geistige Behinderung oft für den so eingeordneten Menschen gesellschaftliche Nachteile durch Vorurteile, schematische Einordnung, erzieherischen Pessimismus und anderes bedeuten kann. Der Begriff wird auch aus vielen Gründen häufiger bei Amerikanern dunkler Hautfarbe, bei männlichen oder körperbehinderten Menschen, bei spanisch sprechenden Amerikanern und bei sozial benachteiligten Menschen benutzt, ist also in der Verwendung diskriminierend.

 

Während Mercer noch vorschlägt, zwischen Personen zu unterscheiden, denen der Begriff Schutz und Hilfe bieten kann und solchen, für die er eine Belastung darstellen kann, sagt Braginsky,1974: "Man kann sich nicht vorstellen, daß Forscher, die sich mit Schwachsinnigen, insbesondere in Anstalten beschäftigen, jemals den Begriff geistige Behinderung als Schutz sehen können. Dieser Begriff hat für den Betroffenen nichts zu bieten als zusätzliche Belastung und Behinderung. Der Begriff trägt nichts zu unserem Verständnis des Problems bei, noch zu der Frage, ob der Betroffene ein Problem hat oder nicht. Der Begriff transformiert einen Menschen sozial in einen Schwachsinnigen und schließt ihn dabei nicht nur für immer von einer sinnvollen Beteiligung am Leben der Gesamtbevölkerung aus, sondern entfernt ihn sehr oft völlig aus der Gemeinschaft und führt dazu, daß er sein Leben gleichsam in einem Ghetto für nicht verwendungsfähige Menschen verbringt. Betrachtet man solche Ergebnisse oder die Forschung, ist da nicht die Zeit gekommen, wo wir aufhören (sollten), unsere Diagnosen zu verbessern und sie völlig verwerfen sollten?"

 

Eine solche Denkweise, die z. B. auch auf die Beschreibung von Menschen mit Lernbehinderung übertragen werden kann, warnt davor, klassifizierende Begriffe zu benutzen, da trotz guter Absichten aus dem Begriff allein dem Menschen zusätzlich behindernde Bedingungen geschaffen werden können.

 

Nun läßt sich gerade in der Behindertenpädagogik kein völlig neuer und damit nicht diskriminierender Begriff denken, weil beim Wechsel der Begriffe die Konnotationen des alten Begriffes bald schon auch auf den neuen Begriff übertragen werden. Man kann z. B. der Schule für Lernhilfe als Nachfolgerin der Sonderschule für Lernbehinderte ohne große Probleme vorhersagen, daß sie nach kurzer Zeit denselben schlechten Begriffsrahmen haben wird wie die Sonderschule für Lernbehinderte es vorher hatte. Sinnvoller erscheint es dann, bestimmte Institutionen wie große Anstalten oder die Sonderschule für Lernbehinderte selbst entweder gründlich zu verändern oder ganz abzuschaffen. Die Argumentation des Anti- Etikettierungsansatzes ist ein sehr ernsthaftes Plädoyer dafür, Klassifikationen und Typologisierungen möglichst ganz zu vermeiden[6].

 

Gerade hier setzen jedoch Probleme der Praxis ein. Nach etwa 25 Jahren diagnostischer Gewohnheiten, in denen gerade nach den typischen Merkmalen von Lernbehinderten und geistig Behinderten gesucht wurde, fällt es vielen Praktikern jetzt schwer, sich von einer derartig klassifizierenden Diagnostik zu verabschieden und sich einer Einzelfallbeschreibung zuzuwenden, wie dies in den Verordnungen zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs in den Bundesländern gewünscht wird, die den gemeinsamen Unterricht für behinderte und nichtbehinderte Kinder einführen. Es wird sicher lange dauern, bis ein typisierendes Denken aus einer medizinischen Modellvorstellung für Diagnose und Förderung heraus als überwunden angesehen werden kann. Es gilt ja nicht nur, sich vom Typus des Lernbehinderten und geistig Behinderten zu verabschieden, sondern auch von einer Diagnostik, deren Ziel die Zuordnung von Individuen zu Typengruppen gewesen ist.


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5. Der Paradigmenwechsel im Bild von der geistigen Behinderung[7]

Die Veränderungen in der Sichtweise der Diagnose sind nun keineswegs zufällig, sondern folgen allgemeinen Veränderungen in den Denkvorstellungen über die Persönlichkeit von Menschen mit geistiger Behinderung.


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5.1 Von der Konstanz zur Veränderungsannahme

Der Wechsel von der Konstanz zur Veränderungsannahme ist sicher als übergeordnetes Moment dieses Wandels zu sehen, d.h. die Überwindung der Annahme, daß eine Behinderung ein letztlich unveränderbarer Defekt sei, der in umweltunabhängiger Weise die Lebenschancen eines Individuums begrenze. Zur Veränderungsannahme gehört dagegen, daß eine geistige Behinderung genauso wie eine körperliche Behinderung nur individuelle Bedingungen setzen kann, deren tatsächliche spätere Wirkung auf die Entwicklung jedoch nicht ohne weiteres im voraus bestimmbar ist. Entscheidend ist die ganzheitliche Wirkung einer Förderung so früh und so umfassend wie möglich.


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5.2 Von der Segregation zur Integration

Die zweite zusätzliche wichtige Veränderung betrifft den Wechsel von der Segregation über die De-Institutionalisierung zur Integration bzw. zum Mainstreaming. Eine Konsequenz neuer Forschungen und eines veränderten Denkens über geistig Behinderte in den USA war z.B. die Entdeckung (Zigler & Balla, 1982), daß viele der vermeintlichen Defekte geistig behinderter Menschen lediglich Artefakte der Anstaltsunterbringung waren und daß durch die Auflösung der Anstalten (Deinstitutionalisierung, Bruininks, 1983) viele dieser vermeintlich "defekten" Persönlichkeitsentwicklungen positiv verändert werden konnten. Eine stärkere Integration in die Gemeinde, in Wohnungen in Gemeinden und Wohngruppen oder Selbsthilfegruppen war die Folge des Deinstitutionalierungsprozesses. Im schulischen Bereich hat dieser Prozeß zum Mainstreaming geführt, der Organisation, so viele Kinder wie möglich unter dem Normalisierungsgedanken mit besonderen pädagogischen und therapeutischen Hilfen und unter Berücksichtigung ihrer besonderen Förderbedürfnisse ("special needs") gemeinsam mit den anderen Kindern ihres Schulbezirkes leben und lernen zu lassen.


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5.3 Von der Typologie und Klassifikation zur Individualisierung

Im Zuge der Umsetzung des Integrations- und Normalisierungsgedankens hat die Behindertenpädagogik Abschied von der Annahme genommen, daß durch eine weitere ständige Optimierung der diagnostischen und therapeutischen Modelle quasi automatisch auch ein Fortschritt in der Entwicklung der Förderung von Menschen mit geistiger Behinderung zu erzielen sei. Der Anti-Labeling-Approach hat gezeigt, daß der Glaube an die Sinnhaftigkeit und an die Nützlichkeit einer psychologischen Klassifikation und Typologisierung der geistigen Behinderung nach Intelligenzquotienten, Motorikquotienten oder sozialen Quotienten wenig sinnvoll ist.

 

Mit der Abkehr von der Annahme, daß man anhand von Intelligenz- oder Motorikquotienten sinnvolle Untergruppen von Menschen z.B. mit geistiger Behinderung bilden könne, hat sich auch im Bildungsbereich der Gedanke der Beschreibung des Leistungsspektrums von Menschen mit geistiger Behinderung von einer Beschreibung von typologischen Gruppenmerkmalen hin zum Aufbau individualisierter Erziehungspläne (I-E-P) im Rahmen des Mainstreaming gewandelt. Differenzangaben zu nichtbehinderten Menschen erwiesen sich als sinnlos für die Förderung von behinderten Kindern und Jugendlichen im Rahmen des Mainstreaming, denn aus Defekt-, Schädigungs- oder Differenzangaben sind keine Interventionsstrategien im pädagogischen Bereich abzuleiten.

 

Ein weiterer Wandel der Denkvorstellungen ergibt sich aus der Veränderung innerhalb der Entwicklungspsychologie. Nicht nur, daß die Entwicklungspychologie die Annahme einer weitgehend parallelen Entwicklung vom chronologischen und psychologischen Lebensalter bis zur Reife aufgegeben hat (das ist schon relativ lange akzeptierte Tatsache), sondern vor allem darin, daß ihre Orientierung inzwischen die lebenslange Entwicklung des Individuums in seiner spezifischen Umwelt zum Gegenstand hat (life span development).

 

Wenn nämlich Entwicklung als ein lebenslanger Prozeß verstanden wird, so ist auch für Therapie oder Intervention (oder pädagogische Förderung) ein lebenslänger Prozeß zur Erreichung langfristiger humaner Ziele zu fordern.

 

Unterstützung hat dieser Gedanke aus einer Richtung gefunden, aus der man bislang wenig Unterstützung erhoffen durfte: aus dem Gesundheitssystem. Die "Ottawa-Charta für Gesundheitsförderung", WHO (1986), greift einerseits den Gedanken der ganzheitlichen Einbettung der Gesundheit in den sozialen Lebenszusammenhang auf, andererseits auch die Vorstellung, daß die Förderung der Gesundheit ein lebenslanger Prozeß sei[8].


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6. Konsequenzen für die Diagnostik

Für die Psychodiagnostik ergeben sich dadurch vehemente Veränderungsnotwendigkeiten. Zum einen wird die Diagnostik gezwungen, auf der Verhaltens- und Handlungsebene neue methodische Konstrukte mit dem Ziel einer stärker subjektiv orientierten Kind-Umwelt-Diagnostik zu entwickeln, zum anderen wird aus der Verhaltenstherapie der Gedanke der Einheit von Diagnose und Therapie in identischen Kategorien übernommen und zum dritten wird zusätzlich der Gedanke formuliert, daß aus einem systemischen Denken - aus einer Verknüpfung der Bindung der Entwicklung an Kind-, Umwelt- und Familienstrukturen - überhaupt eine umfassende ganzheitliche Förderung plan- und organisierbar wird (vgl. Eggert, 1996).


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6.1 Kritik an der Methodik von Tests als Grundlage der Diagnose

Normative Verfahren können diesem Anspruch einer ganzheitlichen und systemischen Sichtweise nicht mehr genügen, sie sind "alte Hüte" (Spiegel, 1995) geworden, weil ihre testmethodischen Grundlagen nicht mehr erfüllbar sind und weil die Qualitätskontrolle der Verfahren nicht mehr aufrechterhalten werden kann (vgl. Schorr, 1995):

 

 

Tests können und konnten nicht die Wünsche der Praxis nach einer objektiven Messung und Einordnung befriedigen. Zudem folgt der Umgang mit den gemessenen Daten einer Reihe von praktischen Regeln, die oft aus unreflektierten Denkfehlern bestehen (wie z.B. die falsche Annahme, daß unter einem IQ von 85 der Bereich der Lernbehinderung beginnen würde. Bei einem Prozentrang von 16 für einen IQ von 85 wären damit 16% eines Schuljahrganges lernbehindert).

 

Ökonomie - oder: das leidige Zeitproblem

 

Von der (Schul-)Verwaltung gewünscht: das "Ei des Columbus" oder "die eierlegende Wollmilchsau" oder ein treffsicheres, objektives Diagnostikum zeitsparend und umfassend, ohne große Voraussetzungen anwendbar etc. Aber:

 

- Je kürzer die Zeit, desto schmaler die Erkenntnis!

- Bei geringem Aufwand auch nur geringe Erträge!

 

Also: Eine umfassende pädagogische Beurteilung eines Kindes braucht viel Zeit und einen hohen Aufwand - aber diese Zeit ist sinnvoll genutzt.

 

Fazit: Die knappe zur Verfügung stehende Zeit sollte besser genutzt werden, um eine intensive lernbegleitende individuelle Kind-Umfeld-Diagnostik durchzuführen.

 

Interne Logik und Methodik der klassischen Testkonstruktion haben sich als Methode der Messung und Bewertung menschlicher Fähigkeiten im Bereich der Behindertenpädagogik nicht bewährt und sollten deshalb nun bald endlich aufgegeben werden.

 

Von hier wird es nun sinnvoll zu beschreiben, welche Alternativen sich bieten, wie sie theoretisch zu begründen sind und welchen Qualitätskriterien sie genügen sollten.

 

Was sind die Alternativen zu Tests?

  • Partielle Abkehr von der Psychologie und stärkere Besinnung auf humanistische Ziele, systemische Entwicklungstheorien und pädagogische und didaktische Inhalte.
  • Verzicht auf ohnehin unmögliche "Objektivität" und stärkere Betonung der Bedeutsamkeit der Resultate von Diagnostik für die Lebenssituation des Betroffenen.
  • Orientierung an Möglichkeiten und Notwendigkeiten der (lebenslangen) individuellen Förderung.
  • Verzicht auf Klassifikationen und typologisierende Beschreibungen und Individualisierung der Beobachtung und Förderung. Verzicht auf die Aussage: "X. ist ein geistig behinderter Mensch."

 

Die folgende Textbox soll den stattgefundenen Wandel zusammenfassend verdeutlichen:

 

Konsequenzen des Paradigmenwechsels für die Diagnostik

  • von der institutionsbezogenen Klassifikation (der geistig behinderte Schüler erfüllt seine Schulpflicht in der Schule für geistig Behinderte)
    zur individuellen lern- und lebensbegleitenden Förderdiagnostik (M. hat einen individuellen Förderbedarf, der in einer Integrationsklasse erfüllt werden kann, wenn neben einer intensiven psychomotorischen Förderung eine Stärkung seines Selbstbewußtseins durch Förderung von Selbstständigkeit erfolgt.) und
  • von der quantitativen zur qualitativen Diagnostik

 

Im folgenden Textabschnitt möchte ich nun versuchen, einige denkbare Alternativen zu beschreiben.


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7. Methoden einer qualitativen Diagnostik im Team

In den Methoden einer qualitativen Lernförderungsdiagnostik im Team (Eggert,1996) kann man eine Möglichkeit sehen, die oben beschriebenen Ziele in der Praxis zu erreichen:

 

Qualitative Lernförderungsdiagnostik im Team

 

... ist ein auf das Individuum zugeschnittener diagnostischer Prozeß

... sucht die "am geringsten einschränkende Lernumwelt"

... vermeidet Klassifikationen und Auswahl für Institutionen

... ist ein ständiger Prozeß von Beobachtung, Hypothesenbildung, Förderung, Neubewertung und Veränderung von Förderung

... beurteilt und beeinflußt langfristig Prozesse des Lernens und der Entwicklung und nicht punktuell Produkte.

... ist auf die Zusammenarbeit im Team z.B. in einer Integrationsklasse oder in einem Förderausschuß oder einer Fördereinrichtung angewiesen, in dem gemeinsam geplant, organisiert, entschieden wird

... braucht auch die Bestimmung von Lernausgangslage und allgemeinen Orientierungsdaten für pädagogische Prozesse

... ist auf Differenzierung, offenen Unterricht, Kooperation von Sonder- und allgemeinen Pädagogen und Integration in der Schule ausgerichtet

... ist vor allem an inhaltlichen pädagogischen und didaktischen Theorien und weniger an psychologischen Konstrukten orientiert ("Abschied von der Psychologie").

... versucht vom Standpunkt des betroffenen Individuums aus zu argumentieren und Diagnose im Hinblick auf Förderung zu planen

... setzt fundiertes pädagogisches Handlungswissen voraus.

 

Für die Erfüllung dieser Aufgaben sind normative Verfahren nicht geeignet, da sie in der Regel keinen inhaltlichen Bezug zu Fördermaßnahmen aufweisen. Es sind aber folgende Alternativen denkbar:

 

1. Variationen und Neu - Zusammenstellungen von Items bekannter Tests

2. Diagnostische Inventare im Bereich der Lernvoraussetzungen

3. Diagnostische Papiere für die Beurteilung der Lernstände

4. Qualitative Einzelfallbeschreibung durch ein Team


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7.1 Förderdiagnostische Variation von Aufgaben herkömmlicher Tests unter Verzicht auf eine quantitative Analyse

Unter der Annahme, daß sich in vielen Tests Aufgabensammlungen befinden, die mit hohem intellektuellen und praktischen Aufwand zusammengestellt wurden und einen breiten Erfahrungshorizont widerspiegeln, kann aus den bestehenden Verfahren durchaus eine Auswahl von brauchbaren Aufgaben vorgenommen werden, die sich dann (wie später bei den diagnostischen Inventaren) sehr stark an die Bedürfnisse der jeweiligen Untersuchungssituation und die Erfordernisse der Untersuchungsgruppen ausrichtet. Am wichtigsten ist dabei das Prinzip der Aufgabenvariation, um durch maximale Hilfe und Unterstützung die Prüf- in eine gemeinsame Lernsituation umwandeln zu können. Folgende Veränderungen sind so z.B. denkbar:

 

 

Es gibt viele weitere Beispiele für mögliche Veränderungen. So kann man auch die Form der Beobachtung verändern, in dem das Kind selbst die Auswahl der Aufgaben trifft oder z. B. in die Rolle des Versuchsleiters schlüpft und in einer Interaktionssituation den bisherigen Testleiter nun selbst überprüft.

 

Für den HAWIK und ähnliche Tests hat sich gezeigt, daß Praktiker vor allem dem Mosaiktest einen hohen diagnostischen Stellenwert beimessen. Es empfiehlt sich also, aus diesem Test ein informelles Verfahren zu machen. In der Praxis finden sich schon eine ganze Reihe derartiger informeller Aufgabensammlungen, die auch einzelne Aufgaben aus anderen bekannten Tests mit umfassen und die vor allem im Bereich der Diagnostik von Teilleistungsstörungen eingesetzt werden.

 

Auch Teile der Testbatterie für geistig behinderte Kinder (TBGB, Bondy u.a., 1969) könnten umgewandelt werden, obwohl wegen der stark epochal veralteten Vorlagen eher davon abzuraten wäre.


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7.2. Diagnostische Inventare in der Psychomotorik

Vor allem für den Bereich der Beobachtung und Beurteilung von Lernvoraussetzungen bieten sich in der Psychomotorik entwickelte diagnostische Inventare an. Die Inventare greifen zum einen den Gedanken auf, die Auswahl aus einem Satz von vorgeschlagenen Beobachtungssituationen je nach Problemlage und Untersuchungssituation durchzuführen (also nicht eine Standardreihenfolge der Aufgaben für alle Situationen gelten soll) und für alle Aufgabentypen motodiagnostische Beobachtungssituationen in unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden durch die Variation der Aufgaben anzubieten.

 

Diese Inventare haben sich zur Erfassung psychomotorischer Basiskompetenzen wie: Gleichgewicht, Kraft/Ausdauer, Schnelligkeit, Gelenkigkeit und der visuellen, auditiven und taktilen Wahrnehmung als Grundlage einer psychomotorischen Förderung auch bei Kindern mit einer geistigen Behinderung sehr gut bewährt (Eggert u.a., 1992; Eggert u.a., 1993).


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7.3 Informelle Aufgabensammlungen: diagnostischen Papiere

Aus der weiter oben beschriebenen Problematik einer Bestimmung des Förderbedarfs von Kindern aus Persönlichkeits-, Intelligenz- oder Schulleistungstests ergab sich schon relativ früh in der sonderpädagogischen Praxis in Niedersachsen die Notwendigkeit, regional bestimmte Aufgabensammlungen zusammenzustellen (vgl. Apel u.a. 1989). Es handelt sich dabei um Aufgabensammlungen zu den Lerngegenständen für die Klassenstufen 1 - 6, die im Sinne von Materialvorlagen den beobachtenden Sonderpädagogen ein umfangreiches Material zur Bestimmung der Zone der jeweiligen Entwicklung eines Kindes in den Lerngegenständen Mathematik, Deutsch (Lesen und Schreiben) und Sachunterricht ermöglichen sollen (Hannover - Papier, Celler Papier, Braunschweiger Papier und informelle Aufgabensammlung aus Stade liegen vor). In den meisten Fällen können mit informellen Beschreibungen der Lernentwicklung und des Lernprozesses in den Lerngegenständen die wesentlichen Fragen der Höhe des Förderbedarfs und der Inhalte der Förderung in bestimmten Lernorten ohne die Durchführung von Tests beschrieben werden.


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7.4 Einzelfallbeschreibung

Vor allem in der Diagnostik der geistigen Behinderung haben sich unter dem Einfluß des Paradigmenwechsels sehr weitreichende Veränderungen ergeben.

 

Spreen, l978, hat schon relativ früh darauf hingewiesen, daß sich die Psychologie mit einer Einzelfallorientierung sowieso ihren eigentlichen Fragestellungen viel eher annähert, als dies unter der Zielsetzung einer klassifikatorischen Zuordnung möglich war. Wir wollen also im folgenden Textteil für die Diagnostik der Methode einer Einzelfallbeschreibung im Rahmen des oben beschriebenen Konzepts einer qualitativen Lernförderungsdiagnostik sprechen.

 

Eine individuumzentrierte Diagnostik der Veränderung individueller Person-Umwelt-Einheiten im lebenslangen Verlauf ist so der Versuch, Veränderungen der Paradigmen in der Entwicklungspsychologie und Veränderungen vom medizinischen Modell zum sozio-psychologischen Modell in einer konkreten Handlungsstrategie für den Psychologen umsetzen und ihm veränderte Aufgaben in der Einzelfallbeschreibung zuzuweisen.

 

Die folgende Textbox zeigt anhand von konstruierten einfachen Beispielen, wie sich Ziele und Beschreibungsweisen vor und nach dem Paradigmenwechsel unterscheiden.

 

Berichte und Gutachten ... vor und nach dem Paradigmenwechsel

 

Ziele - Vorher:

  • Zuordnung zu einer Typologie der Störungen
  • Einordnung in eine Klassifikation nach dem Schweregrad der Störung
  • Beschreibung der Ausprägung typischer Persönlichkeitsmerkmale
  • Ableitung von Konsequenzen für die zukünftige "Behandlung" aus dem Erscheinungsbild.

 

Beispiel:

M. zeigt das typische Erscheinungsbild einer mittelgradigen geistigen Behinderung vom Typus einer Imbezillität am Rande der Debilität. Seine Intelligenz ist sehr stark herabgesetzt (entspricht dem Stande eines vierjährigen Kindes) und seine motorischen Leistungen sind stark retardiert. Seine soziale Reife ist mangelhaft; seine Steuerungsfähigkeit stark herabgesetzt. Aufgrund seiner eingeschränkten Umweltfähigkeit wird er wohl nur in einer geschlossenen Einrichtung gehalten werden können.

 

Ziele - Nacher:

  • Einzelfallbeschreibung
  • Von den Stärken ausgehen
  • Entwicklung in der spezifischen Umwelt beschreiben
  • förderungsorientiert vorgehen
  • Typologien und Klassifikationen vermeiden

 

Beispiel:

Herr M. ist jetzt im Alter von 20 Jahren als junger Mann zu beschreiben, der im Kontaktverhalten offen ist, seine sprachlichen Mittel im Alltag und seine lebenspraktischen Fertigkeiten gut einsetzen kann, um in einer angepaßten Wohnumgebung allein leben zu können. Seine Stärken liegen im Kontaktverhalten und in der Bewältigung von zielgerichteten Kommunikationen im Alltag; seine Probleme liegen im speziellen Lernverhalten vor allem bei komplexen Lernaufgaben - hier braucht er viel Zeit für seine individuellen Lösungen. Die Förderziele für seine weitere Entwicklung liegen vor allem im psychomotorischen und sensomotorischen Bereich, wo er weiterhin Unterstützung braucht, um das gewonnene Niveau der Wahrnehmungsorganisation und der Körperkoordination aufrechterhalten und vielleicht noch weitere Fortschritte machen zu können. Er hat durch eine intensive Frühförderung eine bestehende Entwicklungsstörung weitgehend ausgleichen können.

 

Eine Einzelfallbeschreibung unter dem Versuch, ein individuelles Bild eines ganzen Menschen in seiner Entwicklung und in seiner spezifischen Lebenssituation zu geben, könnte von folgenden Zielsetzungen ausgehen.

 

Ein Bild vom ganzen Menschen geben ... Von den Stärken ausgehen ...

Negative Bewertungen vermeiden ... Nicht (ab-) klassifizieren ...

Anschaulich auf der Verhaltensebene schildern ...

Individuellen Förderbedarf beschreiben ... Vergangenes durch Beschreibung der Biographie in seiner Bedeutung für Gegenwärtiges und Zukünftiges deutlich werden lassen ...

 

Kompetenzen und deren Bedeutung für das Leben des Menschen beschreiben ...

  • basale Kompetenzen (sensomotorische und psychomotorische Fähigkeiten)
  • kognitive Fähigkeiten
  • Anpassungsleistungen (soziale und emotionale Fähigkeiten)
  • Selbstkonzept
  • ästhetische und kreative Fähigkeiten,
  • kreativer Umgang mit dem Körper und seinen Ausdrucksmöglichkeiten
  • Verständnis für technische und wirtschaftliche Zusammenhänge
  • Vorstellungen von Arbeit und Arbeitsmotivation
  • schulische Techniken und Leistungen
  • Sport- und Freizeitaktivitäten

 

Im Anhang findet sich ein ausführliches praktisches Beispiel (Martin).

Daneben spielen die Beschreibung der Interaktionen der Familienmitglieder untereinander und mit dem Kind und die Interaktion mit den anderen bedeutungsvollen Personen im Leben des Kindes eine Rolle neben anderen Faktoren des Umfelds. Ein Versuch, schulbezogen diesen breiten Rahmen an Informationen zu sammeln und in Fördervorschläge umzusetzen, findet sich in den individuellen, Entwicklungsplänen (Eggert, 1996).


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8. Kriterien für die Beurteilung der Qualität einer individuellen Diagnostik

Eine Wiederbelebung der Methodik der differenzierten individuellen Einzelfallbeschreibung wird sich der Kritik mindestens in den folgenden Bereichen stellen müssen:

 

 

Die Aufgabe einer Einzelfalldiagnostik ist, über den aktuellen Stand der Entwicklung eines Menschen unter behindernden Lebensbedingungen Auskunft zu geben, um ihn dann in seiner weiteren Entwicklung umfassend fördern zu können. Die folgende Abbildung 1 versucht zu zeigen, wie aus der Kenntnis der Gegenwart die vorangehende Entwicklung in der Vergangenheit erklärt und die Möglichkeiten der Entwicklung in der Zukunft im Hinblick auf die gedachten Fördermöglichkeiten beschrieben werden können. Das Ziel ist es, möglichst optimale Förderbedingungen für die vorhandenen Förderbedürfnisse beschreiben und bereitstellen zu können. Eine quantitative Diagnostik bietet aber nur eine auf Ergebnisse reduzierte Zustandsbeschreibung. Es fehlen Fragen zur Erweiterung der Perspektive.

 

Montada, 1985, hat darauf hingewiesen, daß die (theoretischen) Grundfragen einer Entwicklungsdiagnostik zugleich auch die Grundfragen praktischen Handelns sind; nämlich etwa die folgenden:

 

 

Aus einem solchen Blickwinkel heraus ist die bislang geübte klassifizierende normative Diagnostik wenig geeignet, da sie sich immer nur auf eine relativ begrenzte Stichprobe aus der Gegenwart bezog und damit nicht unerhebliche Reduktionen in bezug auf Stichprobe, Zeit, Persönlichkeitsmerkmale und Personen in Kauf nehmen mußte. Diese Reduktion des Entwicklungsprozesses auf quantitative Aussagen in einer punktuellen Untersuchung erwies sich zwar als ökonomisch, jedoch sehr beschränkt in der Reichweite der Interpretation der gewonnenen Daten.

 

Unsere graphische Darstellung und die Fragen von Montada ergänzen sich.

 

 

Diagnostik kann nur dann Vergangenes und Zukünftiges aus der Gegenwart ableiten, wenn sie bereit ist, eine Fülle von miteinander verbundenen Informationen individuell und strukturiert zu interpretieren.

 

Merke: Diagnostik kann im Alltag nicht hinter die komplexen Bedingungen zurückfallen, die diesen Alltag des Menschen kennzeichnen; sie ist damit von der Sache her notwendigerweise eine komplexe Angelegenheit.

 

Abb. 1: Sinnrahmen diagnostischer Tätigkeit

 

Darüber hinaus scheint mir die Frage wichtig, wie weit Diagnostik im Alltag hinter die komplexen Bedingungen zurückfallen darf, die einen Alltag des Menschen kennzeichnen. Meine Ansicht ist, daß bei der Verwendung normativer Verfahren oder einer Diagnose, die nicht lernprozeß- oder entwicklungsprozeßbegleitend ist, eine zu starke Reduktion der Komplexität erfolgen würde. Einzelfallbeschreibungen auf der Grundlage langfristiger Beobachtungen von Lern- und Entwicklungsprotokollen greifen aber auf so viele Informationsquellen im Zusammenhang des Förderprozesses zurück, daß sie allein durch diese Reichweite der Fragen schon ein komplexes und dadurch relevantes Bild des Menschen geben können. Wird der Prozeß der Diagnose und Beschreibung dann zusammen mit dem Betroffenen erarbeitet, so kann die Übereinstimmung zwischen Beobachter und Beobachtetem ein zusätzliches Kriterium für die Qualität und das inhaltliche Zutreffen der Aussagen sein.

 

Daß eine solche Einzelfallbeschreibung nun keineswegs auf Qualitätskriterien verzichten muß, sei anhand der folgenden, rechts nachstehenden Textbox demonstriert:

 

Voraussetzung ist die gleichberechtigte Arbeit im interdisziplinären Team mit dem Ziel der Kooperation. Die Professionalität der Teammitglieder sichert die Güte der Diagnose. Die Qualität der diagnostischen Urteilsbildung und der Prognose ergibt sich einerseits aus der Relevanz der Befunde für eine Veränderung der Lebenssituation des Betroffenen. Eine Entwicklungsprognose aufgrund der Erfahrungen eines qualifizierten Teams in einem breiten diagnostischen Spektrum durch Konsens im Team besitzt eine Validität, die dem Grad der gemeinsamen Erfahrungen und der Zulänglichkeit des diagnostischen Bildes entspricht, das dadurch entsteht. Wird das entstehende Bild dann noch in Zusammenarbeit mit dem Betroffenen erstellt, so wäre eine hohe Form von Qualität gesichert - allerdings müßte der Praktiker dann auch akzeptieren, daß Typologisierungen und Klassifikationen in einem solchen Rahmen nicht mehr möglich sind.

 

Qualitätskriterien einer qualitativen Lernförderungsdiagnostik im Team

 

1. "Objektivität" durch Übereinstimmung des diagnostischen Urteils eines Teams von Fachleuten mit hoher Professionalität.

2. "Validität" durch eine Entwicklungsprognose auf dem Erfahrungshintergrund der Teammitglieder (Vorhersage der Entwicklung aufgrund professioneller Erfahrungen).

3. "Generalisierung" der diagnostischen Beobachtungen aus dem Erfahrungshintergrund des Teams (Konsens im Team) und aus der Übereinstimmung von Diagnose und Fördervorschlägen mit einer allgemeinen Theorie des Lernens und der Entwicklung.

4. Erweiterung der Relevanz der diagnostischen Daten durch die größere Perspektive einer systemischen Betrachtungsweise (ökologische Validität).

5. Übereinstimmung der Beurteilungen und Prognosen mit der Sicht der Betroffenen (kommunikative Validität).

 


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9. Die Rolle des Psychologen in der interdisziplinären Kooperation im Interesse des geistig behinderten Menschen

Mit Hilfe derartiger Einzelfallbeschreibungen könnte die Tätigkeit des Psychologen im Team von der letztlich unfruchtbaren Arbeit mit ungeeigneten Methoden (Tests) auf wesentlichere Aufgaben gelenkt werden, die einem psychologischen Verständnis von Professionalität zudem auch näher kommen.

 

Menschen mit geistiger Behinderung und ihre Familien bedürfen immer wieder der Beratung und Hilfe durch andere: Wenn zum ersten Mal der Verdacht der Behinderung entsteht, wenn es um Fragen der Eingliederung in Vorschuleinrichtungen oder der Einschulung geht, bei Entwicklungsstillständen oder gar Entwicklungsrückschritten, bei der Frage einer Heimeinweisung oder Eingliederung in den Arbeitsbereich, bei Fragen des Wohnens und an vielen anderen Punkten ihres Lebens eventuell auch.

 

Wenn auch die Methoden des Psychologen keineswegs "narrensicher" sind - was aber letztlich für die Methoden aller in diesem Bereich arbeitenden Berufsgruppen gilt -, stehen ihm doch mit seinem Wissen aus Lern- und Entwicklungspsychologie, klinischer und Persönlichkeitspsychologie sowie dem Methodenarsenal außerhalb der Testdiagnostik Mittel zur Verfügung, die ihm in Zusammenarbeit mit den Kollegen anderer Berufsgruppen im Team ermöglichen, eine schlüssige Beschreibung zu liefern und an der Planung und Durchführung der Förderung mitzuwirken. Diese individuelle Beschreibung sollte dann ausreichen, um Fragen zur gegenwärtig nötigen Intervention und Förderung zu beantworten. Der Psychologe könnte so den vermeintlichen Verlust durch den Verzicht auf die Testdiagnostik in anderen relevanteren Bereichen ausgleichen.

 

Mit seiner Ausbildung in Gesprächsführung bietet sich im systemischen Denken und Handeln der Psychologe als Berater der Familienangehörigen an. Er könnte auch derjenige sein, der die Untersuchungsergebnisse an die Eltern weitergibt und weitere Schritte mit ihnen plant. Eltern, die beunruhigt sind über die Entwicklung ihres Kindes, sind sehr empfindlich, so daß Kontakte mit ihnen zu dieser Zeit sehr viel Einfühlungsvermögen erfordern. Die spezifische Qualifikation des Psychologen könnte ihn hier nicht nur zum Anwalt des Kindes, sondern auch von dessen Familie machen insgesamt also weniger psychometrische Technologie in der psychologischen Praxis, sondern wieder mehr Kunst und Handwerk in der gemeinschaftlichen Tätigkeit mit anderen für den Behinderten.


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Zusammenfassung

Im Wandel der Paradigmen zur geistigen Behinderung haben sich auch die Diagnosemöglichkeiten in den letzten 25 Jahren entscheidend verändert: an die Stelle einer klassifikatorischen Diagnostik, die sich bemühte, Einstufungen nach Grenzwerten der Intelligenz oder anderer normativer Verfahren vorzunehmen, ist die individuelle Einzelfallbeschreibung im Rahmen einer systemischen Analyse der Mensch - Umfeld - Verhältnisse getreten. Damit ist ein Abschied vom IQ und von der Vorstellung verbunden, daß man unterschiedliche Grade der Intelligenz oder des sozialen Anpassungsverhaltens mit "objektiven" Maßstäben messen könne. Der Abschied vom IQ ist zugleich ein Abschied von den Versuchen, Typologien aufzustellen und Menschen mit geistiger Behinderung danach einzuteilen. Einzelfallbeschreibungen durch ein diagnostisches Team können im Rahmen einer qualitativen Diagnostik nicht nur ein Mehr an Informationen zur Förderung aufzeigen, sondern auch durchaus neuen Qualitätskriterien genügen.


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Literaturangaben

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Anhang

Die Frage, wie konkret eine Einzelfallbeschreibung ausfallen kann und wieviel Informationen man mit solchen Beschreibungen transportieren kann, möchte ich mit der individuellen Beschreibung eines Kindes im Alter von 7;05 Jahren (Martin) demonstrieren, die ich einer studentischen Arbeit von Mamsch, 1995 entnommen habe. Martin besucht eine Integrationsklasse. Die diagnostischen Untersuchungen sind mit der Zielsetzung begonnen und beschrieben worden, ihm in dieser Klasse eine besonders fördernde Umgebung zu sichern.



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Fallbeschreibung Martin:

Biographie:

Martin kam im Oktober 1987 als 2. Kind seiner verheirateten Eltern per Kaiserschnitt auf die Welt. Er hat einen sieben Jahre älteren Bruder, der aufgrund einer Rötelembryopathie schwer mehrfach behindert geboren wurde. Martin selbst war - bis auf eine Lungenentzündung - nie ernstlich krank. Vor seiner Einschulung besuchte Martin ganztags einen Kindergarten der Lebenshilfe in Hannover, in dem er an der Sprach- und Spieltherapie teilnahm.

 

Gegenwart:

Martin besucht eine Integrationsklasse in der Nähe der Wohnung seiner Eltern. Nach der Schule verbringt er seine Nachmittage in der 3 1/2-Zimmerwohnung der Familie im 3. Stockwerk einer Hochhauswohnanlage in einem sozialen Problemviertel der Stadt. Er hat keine Möglichkeit, im Freien zu spielen, weil seine gehbehinderte Mutter es ihm nicht gestatten mag. Die Mutter hat Angst vor bösen Kerlen. Zudem mag sie den älteren bettlägerigen Sohn nicht allein in der Wohnung lassen. Martin wird jeden Tag mit einem Taxi zur Schule und zurück gefahren, hält sich also ausschließlich "drinnen" auf. Er hat dementsprechend kaum Außenwelterfahrung und wenig Möglichkeiten für großräumige Bewegungserfahrung.

 

Beschreibung von Martin:

Martin ist ein kontakfreudiger und freundlicher Junge, der sich visuell stark an seinen Mitmenschen - und speziell an seiner Schulfreundin Karin - orientiert. Martin wurde als geistig behindertes Kind ohne nähere Angaben in die Integrationsklasse eingeschult. Er wird von seinen Mitschülern akzeptiert, scheint aber noch nicht voll in der Klasse integriert zu sein. In der Klasse sind 16 nichtbehinderte und 3 behinderte Kinder. Seine Klassenkameraden ärgern sich oft über ihn, weil er sich Dinge gedankenlos ausleiht und nicht von allein wieder zurückgibt. Auch irritiert es seine Tischnachbarn, wenn er in Stillarbeitsphasen scheinbar grundlos plötzlich laut auflacht oder sich wiederholt die Nase mit dem Hemdsärmel säubert.

 

Wenn er das Bedürfnis nach körperlicher Nähe hat, klammert er sich sofort an Mitschüler oder an die Lehrerin an und zerrt dabei recht kräftig an ihren Kleidern. Er kann dabei seine Kraft nicht dosiert einsetzen.

 

Weint ein anderes Kind, dann gesellt sich Martin sofort zu ihm, wirkt betroffen und erkundigt sich nach den Ursachen. Wenn er wütend ist, dann kann er dies durch seine Mimik wirkungsvoll unterstreichen und dann außerordentlich "finster" aussehen. Im Gesprächskreis hört er den Erzählungen anderer bis auf gelegentliche Rückfragen oder Unterbrechungen geduldig und ausdauernd zu und hält die Gesprächsregeln ein.

 

Martin spricht verhältnismäßig schnell, undeutlich und in stichwortartig verkürzten Sätzen, so daß es oft schwierig ist, den Sinn seiner Ausführungen zu begreifen. Oft springt er in seinen Erzählungen unvermittelt von einem Thema ins andere. Er reagiert dann auf Nachfragen irritiert oder beantwortet sie nicht.

 

Martin gilt als schwerhörig, jedoch scheint es mir nach meinen Beobachtungen eher, daß er sehr hoch geräuschempfindlich ist, denn er deckt bei manchen Spielen seine Ohren mit den Händen ab. Mir scheint eher seine auditive Aufmerksamkeitsspanne sehr gering. Er wirkt oft so, als hinge er seinen eigenen Gedanken nach. Durch eine Strategie, sich visuell an seinen Mitmenschen zu orientieren, findet er sich dann wieder im sozialen Geschehen in der Klasse ein. Martin läßt sich gern von seinen Lehrerinnen und Mitschülern bei der Bewältigung schulischer Aufgaben helfen. Für jeden Aufgabenschritt - etwa beim Buchstabenschreiben - fordert er von ihnen Aufmerksamkeit oder Bestätigung. Lob und emotionale Zustimmung sind ihm sehr wichtig. Ergebnisse selbständiger Arbeit präsentiert er stolz.

 

In verschiedenen Bewegungssituationen fielen mir seine Schwierigkeiten in der Raum-Lage-Orientierung in kleinen Räumen auf, die im Widerspruch zu seinen ansonsten präzisen Angaben zu Örtlichkeiten in seiner Umgebung stehen. Martin kann rechts und links am eigenen Körper und im Raum nicht sicher unterscheiden und sucht z. B. auf dem Papier nicht von rechts nach links, sondern ungeordnet nach bestimmten Buchstaben beim Spiel "Buchstabenjagd". Seine Schuhe verwechselt er auch häufig und fragt nach dem Anziehen auch ständig, ob er sie richtig angezogen habe. ??? laufen geht er eher sehr schnell bei Spielen. Dabei ballt er seine Hände zu Fäusten und spreizt seine Finger mit zum Körper gewandten Handrücken "krallenartig" ab. Martin kann Gefahren bei der Bewegung abschätzen und bewegt sich im allgemeinen sicher. Er hat jedoch im Alltagsleben außerhalb der Schule wenig Möglichkeiten, vielfältige und großräumige Bewegungserfahrungen zu machen. Dem entsprechend sind seine Bewegungen wenig gelockert und wirken steif und unkoordiniert. Er kann seinen Körper sehr gut zur pantomimischen Darstellung einsetzen und hat ein gutes rhythmisches Empfinden.

Martin ist anderen Menschen und neuen Sachverhalten gegenüber sehr aufgeschlossen.

 

Zukunft:

In der Integrationsklasse kann Martin auch in Zukunft eher diejenige Förderung erhalten, die ihn zu einer erfolgreichen Bewältigung seines Alltags verhelfen kann: psychomotorische Förderung für seinen hohen Förderbedarf im Bereich der sensomotorischen und psychomotorischen Voraussetzungen und Fähigkeiten; die Unterstützung seiner Lehrerin und seiner Mitschüler dabei, mehr Selbständigkeit für eigene Aktivitäten zu gewinnen. Seine gut ausgeprägten sozialen Fähigkeiten sprechen entschieden gegen eine Unterrichtung in einer Schule für geistig behinderte Kinder. Wegen seiner hohen sozialen Sensibilität wäre im Gegenteil eher zu erwarten, daß er sich abgewiesen und ausgegrenzt bei einer Umschulung fühlen könnte.


 

Mir scheint, daß eine derartige beschreibende individuelle Diagnostik durchaus geeignet ist, nicht nur ein sehr facettenreiches Bild von Martin zu entwerfen, sondern auch eine relativ klare Vorstellung davon zu vermitteln, welche Förderschwerpunkte bei Martin notwendig sein sollten. Dieses Beispiel schildert gut die Möglichkeiten einer qualitativen Förderdiagnostik mit dem Ziel, Förderbedürfnisse und notwendige Förderung miteinander zu verbinden.

 

Da die Beobachtung nicht nur auf eigenen Beobachtungen der Verfasserin beruhen, sondern sich aus der Zusammenarbeit mit der Grundschullehrerin und der Sonderpädagogin in der Integrationsklasse ergeben, erheben sie auch den Anspruch einer recht weitreichenden Objektivität, da die geschilderten Aspekte das Ergebnis eines Teamprozesses sind. Ich möchte es dem Leser überlassen, diese Einzelfallbeschreibung mit gängigen auslesediagnostischen Beschreibungen mit normativen Verfahren zu vergleichen und selbst den Schluß zu ziehen, aus welcher Beschreibung mehr Hinweise zur Förderung und für die Lebensplanung eines Kindes möglich sein könnten.


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Autor

Univ-Prof. Dr. Dietrich Eggert

1965-1967 als Diplom-Psychologe an der Entwicklung der Testbatterie für geistig behinderte Kinder am Psychologischen Institut der Universität Hamburg beteiligt, 1967-1969 Assistent an einer Psychiatrischen Klinik, 1969-1971 Leiter der Abteilung sonderpädagogische Psychologie und Sozialpädagogik am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung in Frankfurt. Seit 1971 Professor für Psychologie der Behinderten an der Universität Hannover. Forschungsschwerpunkte waren und sind: Psychologische Diagnostik, Diagnose und Förderung von lese-, rechtschreibschwachen Kindern Psychomotorik, Theorien der geistigen Behinderung, Kritik an der Psychodiagnostik, Förderdiagnostik, psychomotorische Förderung und Integration. Universität Hannover; Fachbereich Erziehungswissenschaften I, D-30173 Hannover, Bismarckstraße 2

 

 

 

Quelle:

Dietrich Eggert: Abschied von der Klassifikation von Menschen mit geistiger Behinderung - Der Paradigmenwandel in der Diagnostik und seine Konsequenzen

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft, 19. Jahrgang, Heft 1/1996, Seite 43 - 64

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Stand: 18. Aug. 2000

 

 


[1] Jedes Kind hat einzigartige Merkmale, Interessen, Fähigkeiten und Lernbedürfnisse. Schulsysteme sollten so beschaffen sein, daß sie diese weite Variation in Merkmalen und Bedürfnissen berücksichtigen. Kinder mit besonderem Förderbedarf müssen Zugang zu allgemeinen Schulen haben, die ihren Förderbedarf im Rahmen einer kindzentrierten Pädagogik erfüllen sollten. Allgemeine Schulen mit inklusiver Orientierung sind die wirkungsvollsten Einrichtungen, um diskriminierende Vorurteile zu bekämpfen, eine integrierende Gesellschaft aufzubauen und eine "Erziehung für alle" zu gewährleisten (Auszug durch den Verf.).

[2] Auch heute werden trotz des Bemühens um eine weltweite Vereinheitlichung unter dem Begriff der geistigen Behinderung sehr unterschiedliche Konzeptionen zusammengefaßt. So hatte ein unbekannter Diskussionsteilnehmer der Weltkonferenz der IASSMD 1988 in Dublin sicher recht, wenn er feststellte, daß rund 200 Referenten des Kongresses zwar alle von "der" geistigen Behinderung sprächen, man aber zu recht daran zweifeln könne, daß sie auch alle einen gemeinsamen oder auch nur vergleichbaren Begriff davon hätten.

[3] Obwohl dies immer wieder von Praktikern behauptet wurde, ist die Situation bei der Verwendung von Intelligenztests für die Auslese von Sonderschülern selten anders gewesen. Selbst wenn IQ-Werte ermittelt wurden, hat die tatsächliche Einordnung sich höchstens zu 30-40 % auch wirklich nach der Höhe der ermittelten Werte gerichtet.

[4] Bezogen auf den Hamburg-Wechsler-Intelligenztest von 1956.

[5] Aus Eggert, D., Tests für geistig Behinderte, Weinheim: Beltz, 1969

[6] Es ist übrigens erstaunlich, daß diese Ansichten so wenig in der deutschen Diskussion aufgenommen wurden, daß sie heute noch eine unbestreitbare Aktualität besitzen.

[7] Eine ausführliche Darstellung findet sich bei Eggert, 1990b.

[8] Förderung der Gesundheit verlangt sowohl die individuelle Entwicklung und Förderung entsprechender Kompetenzen als auch die Gestaltung entsprechender Lebens-, Lern- und Arbeitsbedingungen. Gesundheit ist ganzheitlich in ihrer körperlichen, geistig-seelischen und sozialen Dimension ... sie ist individuell erlebtes physisches, psychisches und soziales Wohlbefinden, das zugleich die gesellschaftlichen und Umweltbedingungen für dieses Befinden einschließt. Um ein umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden zu erlangen, ist es notwendig, daß sowohl einzelne als auch Gruppen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen wahrnehmen und verwirklichen sowie ihre Umwelt meistern bzw. verändern können ... Die Verantwortung für Gesundheitsförderung liegt deshalb nicht nur beim Gesundheitssektor, sondern bei allen Politikbereichen. Gesundheit ist nicht statisch sondern ein lebenslanger Prozeß. Komponenten des Gesundheitsbegriffs:

- soziale und persönliche Kompetenzen,

- positives Selbstkonzept, - emotionale Stabilität, - Kommunikationsfähigkeit,

- Selbstaktualisierung, - Sicht der eigenen Person in der Welt, - Körperlichkeit,

- Gewicht, Haltung und Bewegungsfähigkeit, - (Management der) Streßreize aus der Umwelt, - sinnliche Wahrnehmung, - Ernährung, - sozialer Rückhalt, soziale Integration, soziale Unterstützung, positives soziales Klima, - gesundheitsförderliche strukturelle Bedingungen in Wohnung, Umfeld, Schule, Architektur etc.

[9] Ausführliche Darstellung dieser systemimmanenten Kritik an der Methodik der psychometrischen Tests findet sich in Eggert, 1995 und 1996b.