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Allgemeines zum Begriff 'Behinderung'

Quelle: Bleidick, U.: u.a.: Einführung in die Behindertenpädagogik Stuttgart 1992, 4. Aufl., S. 11 ff

Behinderung bezeichnet zunächst keinen pädagogischen Sachverhalt. Erziehung und Unterricht von Behinderten haben sich jedoch in der Geschichte der Pädagogik in verschiedensten Institutionen ausgeprägt.

 

Die Durchsetzung des Bildungsrechts für Behinderte im 19. Jh. geschah in der Weise, dass Sonderklassen und Sonderschulen für diejenigen Schüler eingerichtet wurden, die in allgemeinen Schulen nicht mitkamen.

 

Auch heute wird der weitaus überwiegende Teil der als behindert diagnostizierten Kinder und Jugendlichen in Sonderbildungseinrichtungen unterrichtet.

 

Ein bemerkenswerter Akzent der neueren bildungspolitischen Diskussion ist, dass unter der Leitidee einer ‘Integration’ - gemeint ist die gemeinsame Unterrichtung behinderter und nichtbehinderter Schüler in dafür vorbereiteten allgemeinbildenden Schulen - versucht wird, den historischen Prozess der Ausgliederung aus dem allgemeinen Schulwesen zurückzudrehen.

 

Ähnliches kann auch für die erwachsenen behinderten Menschen gelten.

 

Zur Definition von ‘Behinderung’ nach Aussagen der WHO

 

Ein international weitgehend anerkanntes Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation zur Beschreibung von Behinderungen liegt seit dem Rehabiltation Codes Report (1957 - 1962) vor (letzte Fassung 1980)

 

Danach werden drei Dimensionen der Betrachtung unterschieden:

 

1.      Schädigung (impairment) von Organen oder Funktionen des Menschen;

 

2.      Beeinträchtigung (disability) des Menschen, der aufgrund seiner Schädigung in der Regel eingeschränkte Fähigkeiten im Vergleich zu nichtgeschädigten Menschen gleichen Alters besitzt;

 

3.      Benachteiligung (handicap) des Menschen im körperlichen und psycho-sozialen Feld, in familiärer, beruflicher und gesellschaftlicher Hinsicht aufgrund seiner Schädigung und Beeinträchtigung.

 

So einsichtig diese Definitionen auf den ersten Blick sind, so schwierig ist die Verknüpfung mit dem uns gebräuchlichen Begriff von ‘Behinderung’.

 

Behinderung ist im Prinzip ein komplexer Prozess von Ursachen und Folgen, unmittelbaren Auswirkungen, individuellem Schicksal und sozialen Konsequenzen.

 

Im Prinzip kann eine Gesellschaft so verfasst sein, dass Menschen mit Schädigungen und Beeinträchtigungen auf Grund eines optimalen Hilfeangebotes der Gesellschaft so weit gefördert werden, dass sie nicht benachteiligt sind. Im utopischen Sinn gibt es keine Behinderten als Benachteiligte. Auf den Begriff ‘Behinderung’ könnte dann verzichtet werden.

 

Es ist offensichtlich, dass dieser hohe Anspruch bislang nicht zu realisieren ist. Die grundsätzliche Richtigkeit des rehabilitativen Ansatzes dürfte davon aber unberührt bleiben.

 

Die oben genannten Definitionschwierigkeiten haben in Deutschland dazu geführt, den umgangssprachlichen Begriff der Behinderung beizubehalten. In einem weiteren Schritt wird jedoch versucht, ein pragmatisches Begriffsverständnis festzusetzen.

 

Die Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates (1973) definiert folgendermaßen:

 

‘Als behindert gelten Personen, die infolge einer Schädigung ihrer körperlichen, seelischen oder geistigen Funktionen so weit beeinträchtigt sind, dass ihre unmittelbaren Lebensverrichtungen oder ihre Teilnahme am Leben der Gesellschaft erschwert werden.’

 

Auslegung:

 

Die inhaltlichen Bestandteile dieser Definition sind an folgenden Begriffen festzumachen:

 

‘gelten’: Die Definition von Behinderung liegt nicht fest. Es soll ihre Vorläufigkeit und ihr jeweils begrenzter Geltungscharakter betont werden: Behinderung ist ein relativer Tatbestand.

 

‚Schädigung’: Behinderung ist in der Regel eine Folge einer Schädigung.

 

‘körperliche, seelische oder geistige Funktionen’: Die Behinderung kann, teilweise oder durchgängig physische (körperliche) oder psychische (seelisch-geistige) Gebiete betreffen. Wir sprechen von Funktionen, wenn wir damit sowohl von der Schädigung abhängige Größen, als auch die Wirkungsweisen meinen.

 

‘unmittelbare Lebensverrichtungen oder Teilnahme am Leben der Gesellschaft’: Behinderung hat eine individuelle und eine soziale Seite. Persönliche Lebenserschwerungen liegen etwa dann vor, wenn z. B. der Körperbehinderte sich durch die Einschränkung seiner Bewegungsfähigkeit nicht frei bewegen kann und auf Hilfe angewiesen ist; wenn ein Blinder sich optisch nicht orientieren kann; wenn der Gehörlose akustische Signale nicht wahrnimmt und dadurch im Straßenverkehr gefährdet ist. Ebenso folgenreich sind die Erschwerungen, die der Behinderte im sozialen Feld erfährt und die seine Eingliederung in das öffentliche Leben, in die Bildungsinstitutionen, in die Berufs- und Arbeitswelt und selbst in die Familie erschweren.

 

‘beeinträchtigt’: Die Wahl des Oberbegriffs Beeinträchtigung deutet an, dass der Begriff Beeinträchtigung später weiter definiert werden muss, bzw. weiter differenziert werden muss. Leichte und schwere Formen der Behinderung haben gemeinsam, dass sie alle irgendwelche Beeinträchtigungen im individuellen und sozialen Feld nach sich ziehen.

 

Schädigung, Gebiete und Schweregrade von Behinderung


 

Der Tatbestand der Behinderung ist in Wirklichkeit komplexer als der erste definitorische Zugang ausdrückt. Behinderung ist fast immer die Folge einer Schädigung, einer frühkindlichen Hirnschädigung etwa, einer angeborenen Gliedmaßenfehlbildung, eines Ausfalls in Sinnesorganen usw. 

 

Die Schädigung kann im körperlich-biologischen, aber auch im seelisch-geistigen Bereich aufgetreten sein. Im ersten Fall lässt sie sich leichter ursächlich ausmachen und diagnostizieren..

Schädigungen im emotionalen und kognitiven Bereich, wie z. B. eine massive frühkindliche Vernachlässigung, (Stichwort Hospitalismus), die zu einer späteren Verhaltensstörung führen können, sind demgegenüber selten eindeutig zu bestimmen.

 

Eine zugrundeliegende Schädigung ist beim letzten Beispiel anzunehmen, aber nicht streng zu beweisen. Es wird dann von funktionellen Störungen gesprochen, um auszudrücken, dass das Zusammenspiel der psychischen Kräfte gestört ist.

 

Diese vorgenommene Aufteilung nach organischen und funktionellen Störungen ist allerdings ein idealtypisches Konstrukt, das im konkreten diagnostischen Fall nicht immer so anwendbar ist.

 

Behinderung muss ferner als Prozessbegriff verstanden werden. Eine der wesentlichen Aufgaben der Medizin, Pädagogik und Sozialhilfe besteht darin, Beeinträchtigungen rechtzeitig zu erkennen und durch prophylaktische Maßnahmen zu verhindern, dass aus einer drohenden Behinderung eine manifeste Behinderung wird.

 

Behinderung ist ein abstrakter Oberbegriff, der in seiner näheren Bestimmung weiter zu differenzieren und zu konkretisieren ist:

 

nnach Schädigungsarten

nnach Gebieten des Behindertseins

nnach Schweregraden.

 

Die Schädigungsarten liefern ein erstes Klassifikationssystem für Behinderungen. Die nachfolgend aufgeführte Einteilung von Schädigungen stellt ein verbreitetes medizinisches Raster dar, das auch für die Rehabilitationsgesetzgebung als einschlägig gilt.

 

Dieses medizinische Modell hat erhebliche Nachteile für die Hilfszumessung bei Behinderten.

Es werden unterschieden:

 

nAnfallserkrankungen

nAltersgebrechlichkeiten

nGeisteskrankheiten (Psychosen)

nHörschädigungen

nIntelligenzschädigungen

nKörperbehinderungen

nLangfristige Erkrankungen

nSehschädigungen

nSprachbehinderungen

nVerhaltensstörungen

 

Hinweis: Behinderung muss von Krankheit unterschieden werden,. In der Regel gilt Behinderung als ein Folgeleiden der Erkrankung, als Postzustand nach durchlaufenem Krankheitsprozess. Jedoch sind die Grenzen nicht starr zu ziehen.

 

Die Gebiete des Behindertseins

 

 

 

Der Schweregrad


 

Die Frage nach dem Schweregrad von Behinderung ist nicht so leicht zu beantworten. Vielmehr lässt sich die Schwere des Behindertseins im Einzelfall nur in einem differenzierten Koordinatensystem von vier sich überkreuzenden und bedingenden Variablen darstellen:

 

Gebiete des Behindertseins                                                           Art der Behinderung

 

Ausmaß des Defektes                                                                     Subjektives Leiden

 

Unter den Gebieten des Behindertseins erscheint es unmöglich, eine Rangabstufung nach

‘Schweregraden’ vorzunehmen.

 

Die Frage stellt sich, wer mehr von seiner Behinderung betroffen ist (Stichwort Individualität).

 

Beispiel: Ein an den Rollstuhl gebundener, ‘objektiv’ schwer Behinderter kann mit seinem Defekt u. U. fertig werden, und ein nur leicht körperlich Versehrter, der sich am Bild des Unversehrten misst, kann in diesem sozialen Bezugssystem sein ‘Anderssein’ stärker empfinden und insofern ‘schwer behindert’ sein.

 

Die subjektive Verarbeitung von Behinderung ist zweifellos eine ausschlaggebende Größe. Nicht zuletzt kommt es darauf an wie der Behinderte mit seiner Behinderung fertig wird.

 
 

Behinderung: Relativität, Normalität

 

Die Erörterung von Schweregraden des Behindertseins führt auf ein Problem, das grundsätzlicher Art ist.

 

Es gibt keine allgemein anerkannte Definition von Behinderung. es ist auch nicht erwünscht, dass allgemeingültig, für alle Zeiten, festgelegt werde, wer als behindert zu gelten hat und wer nicht.

 

Die Tatbestände Behindertsein und Behinderung sind sozial vermittelt: Soziale Normen, Konventionen und Standards bestimmen darüber, wer behindert ist. Der Begriff selbst unterliegt einem handlungsgeleiteten Erkenntnisinteresse. 

Darum sind alle Aussagen darüber, wer gestört, behindert, beeinträchtigt, geschädigt ist usw., relativ, von gesellschaftlichen Einstellungen und diagnostischen Zuschreibungen abhängig.

 

Im bisherigen Zusammenhang wurde das Kriterium der gesellschaftlichen Norm für Behinderung als wirksam erkannt. Umgangssprachlich gilt zumal der schwer Behinderte als ‘abnorm’ oder ‘anomal’.

 

Im wesentlichen können zwei unterschiedliche Begriffe von Norm auseinandergehalten werden:

 

n    statistische Norm, die den am häufigsten vorkommenden Bereich der Verteilung meint

 

n    ideale Norm, die eine optimale individuelle oder im sozialen Verband gegebene Zielgröße vorstellt.

 

 

Behinderung wäre in diesem Sinn - nach der jeweils zu treffenden Übereinkunft des messenden sozialen Bezugssystems - entweder: Abweichung vom Durchschnitt, genauer vom regelhaft durchschnittlichen Unbehindertseins, oder Personen, die dem Idealbild des Intakten, Unversehrten, Schönen am wenigsten nahe kommen.

 

Diese Wertmaßstäbe sind historisch und gesellschaftlich bedingt, wandelbar und der Beeinflussung zugänglich.

 

Das Behindertsein hängt somit entscheidend davon ab, welche gesellschaftlichen Erwartungen gegenüber Menschen mit abweichendem Verhalten erhoben und welche Hilfen ihnen gegeben werden, um diesen Erwartungen entsprechen zu können.

 

Unter sozialpolitischen Aspekten stellt sich demnach die Forderung, die Zahl der Behinderten ständig zu verringern. (Umdefinitionen, dadurch Kostenersparnis) [1]

 



[1]vgl. Bleidick, U. u.a.,: Einführung in die Behindertenpädagogik I, Stuttgart 1992,

4. Aufl. S. 11 ff