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Leitsätze für die Erziehung geistig behinderter Kinder

 Bach, Heinz: Geistigbehindertenpädagogik, 15. Aufl., Berlin 1995, S. 97 ff



I. Grundlagen
 
 

1. Neben der körperlichen Pflege und regelmäßiger ärztlicher Betreuung bedarf das geistig behinderte Kind der Erziehung.

2. Die Erziehung ist nicht nur möglich, sondern ganz besonders wichtig.

3. Sie sollte so früh wie irgend möglich beginnen.

4. Sie muß auf das seelisch-geistige Entwicklungsalter abgestimmt sein, das beim geistig behinderten Kind stets um mehrere Jahre unter seinem Lebensalter liegt.

5. Wichtig für die Erziehung ist es, zu sehen, was das Kind kann, nicht was es n i c h t kann; denn bei den offengebliebenen Möglichkeiten muß die Erziehung ansetzen.

Es geht bei der Erziehung ebenso darum, ihm die Welt zu erschließen und ihm wirkliche Lebenserfülltheit zu ermöglichen, wie um die Anleitung zur Übernahme von Aufgaben und die Hinführung zu wirklicher Lebenstüchtigkeit.
 
 
 
 

II Einzelne Erziehungsaufgaben

1. Selbständigkeit beim An- und Auskleiden, beim Essen und Trinken, bei der Körperpflege und beim Zurechtfinden in Haus und Umgebung geben dem Kind Sicherheit, Unabhängigkeit und Selbstvertrauen.

2. Ordentliches Benehmen, nette Umgangsformen, Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft erwerben dem geistig behinderten Kind das lebensnotwendige Wohlwollen der Umgebung.

3. Anstelligkeit beim Aufräumen, bei der Raumpflege, bei der Küchenarbeit,, bei Besorgungen und sonstigen kleinen Arbeiten des Alltags eröffnen dem Kind ein begründetes Selbstwertgefühl und verhilft ihm zur Eingliederung in die Gemeinschaft/Gesellschaft.

4. Die körperliche Beweglichkeit, Geschicklichkeit, Haltung und Ausdauer bedürfen täglicher Übung - möglichst in der frischen Luft; das geistig behinderte Kind soll seine Glieder gebrauchen lernen; trotz der gebotenen Vorsicht ist Verweichlichung zu vermeiden.

5. Auge, Ohr-, Tast-, Geruchs- und Geschmacksinn bedürfen der regelmäßigen Schulung; vielfältige, als Spiel angebotene Gelegenheiten zum Erfassen, Unterscheiden und Verfolgen von Sinneseindrücken sind hierzu erforderlich.

6. Ausdrucksfähigkeit und Handgeschicklichkeit werden durch Bauen, Formen, Malen, durch Schneide-, Falt-, Web- und andere Arbeiten, durch Puppen- und Nachahmungsspiel, durch Singen und einfachstes Musizieren gefördert, von besonderer Wichtigkeit sind der seelisch-geistigen Entwicklungsstufe angemessenes Spielzeug und vielfältiges Beschäftigungsmaterial des täglichen Lebens.

7. Die Förderung des Sprachverständnisses und die Sprachfähigkeit ist für die geistige Entwicklung von entscheidender Bedeutung; das einfache Sprechen mit dem Kind und die unermüdliche Anregung zum Sprechen sind hierbei ebenso wichtig, wie spielhafte Zungen-, Lippen- und Stimmübungen.

8. Die Anbahnung der dem geistig behinderten Kind möglichen Denkvollzüge bedarf der planmäßigen Einführung in das Gegenstands-, Regel- und Zeichenverständnis; jedoch ist eine Unterweisung im Lesen, Schreiben und Rechnen nur für einen kleinen Teil der Geistigbehinderten und erst nach entsprechenden Fortschritten in der seelisch-geistigen Gesamtentwicklung sinnvoll.

9. Die gemüthafte Teilhabe des geistig behinderten Kindes und seine religiöse Erziehung sind vor allem abhängig von seiner betonten Einbeziehung in das Erleben der Umwelt, von dem Mitteilen von Gemütsbewegungen, Wertungen, Einstellungen, von dem Vertrauen und der Zuwendung, die man ihm entgegenbringt.

10. Hinsichtlich der Geschlechtserziehung ist folgendes erforderlich: Verzicht auf eine ausführliche ‘Aufklärung’, welche die wirklich vorhandenen Fragen überschreitet; Vermeidung von Handlungen (übertriebene Zärtlichkeiten, Streicheln, Küssen usw.), Gesprächen und sonstigen Einflüssen (bestimmte Filme, Fernsehsendungen usw.), die zu Erweckung und Anregung des Geschlechtstriebes angetan sind; Einführung unverfänglicher Zeichen gegenseitiger Zuneigung /Augenkontakt, Zunicken, Schulterklopfen, Worte); Verzicht auf Bedrohung und Strafe hinsichtlich der Onanie oder anderer unerwünschter sexueller Verhaltensweisen zugunsten positiver Maßnahmen; Erziehung zu Schamhaftigkeit von früher Kindheit an ("das tut man nicht!").

Sorge für ausreichende körperliche Auslastung durch Spiel, Arbeit, Sport; Beachtung maßvoller Malzeiten und Nachtruhe; Beaufsichtigung der Schul- und Berufswege sowie der Freizeitbeschäftigung ist sinnvoll.

Prinzipiell gelten für geistig behinderte Mädchen die für Jungen genannten Grundregeln; zusätzlich ist auf zurückhaltende Kleidung und auf ein rechtzeitiges Vertrautmachen mit den Gegebenheiten der Monatshygiene zu achten.
 
 
 
 

III Methoden

1. Die Erziehung des geistig behinderten Kindes muß sich auf sein Spiel-, Lern- und Arbeitstempo sowie auf seine Durchhaltefähigkeit einstellen; Hast und Überanstrengung sind zu vermeiden.

2. Ein Vorgehen in kleinsten Schritten und vom Leichten zum Schweren ist unerläßlich.

3. Das geistig behinderte Kind soll nicht untätig sein; das notwendige Beschützen darf nicht zu einer Entbindung von allen Aufgaben führen.

4. Durchgängiges Erfassen mit vielen Sinnen und in praktischem Tun bilden den Hauptweg für die Erziehung des geistig behinderten Kindes.

5. Erlebnisnähe, Lustbetontheit, angemessene Abwechslung und Abschirmung gegenüber Ablenkungen vermögen die Erziehungsarbeit entscheidend zu fördern.

6. Intensive Anregung und Ansporn sind unentbehrlich.

7. Regelmäßigkeit im Tagesablauf sowie unermüdliche Übung und Wiederholung sind Grundbedingung für wirkliche Fortschritte.

8. Auch das geistig behinderte Kind kann gut oder unzweckmäßig erzogen sein; Gehemmtheit oder Hemmungslosigkeit sind keineswegs immer Zeichen der Behinderung selbst, sondern häufig Folge von Erziehungsbedrängung (Härte, keine Unausweichlichkeit oder Überbesorgtheit) oder von Erziehungsmangel (Verwöhnung, Resignation oder Inkonsequenz).

Bei vorliegender Gehemmtheit bedarf es vor allem der Lösung durch Aufhebung von Versagungen, Einengungen und Überforderungen, bei vorliegender Hemmungslosigkeit besonders der Bindung durch beharrliche Aufgaben- und Grenzbestimmungen.

9. Besser als Befehlen und Anweisungengeben ist Vormachen und Mitmachen, besser als Verbieten ist Anleiten zum Richtigmachen oder zu anderweitigem sinnvollem Tun.

10. Besser als Einhelfen und Nachhelfen ist das Stellen solcher Aufgaben, die besondere Hilfe entbehrlich machen. Hilfe sollte nur dort gegeben werden, wo sie unbedingt notwendig ist.

11. Überforderung und Angst lähmen ebenso wie Mangel an Anregung und Aufgaben das natürliche Lernbedürfnis und das Selbstwertgefühl des Kindes.

12. Oft ist sog. Fehlverhalten ein dem seelisch-geistigen Entwicklungsalter des geistig behinderten Kindes völlig angemessenes Verhalten, das nur angesichts seines Lebensalters befremdlich erscheint, oder es ist Ausdruck dafür, daß die Gebote des Erziehers noch nicht voll verstanden worden sind; in beiden Fällen ist Strafe fehl am Platz.

13. Besser als Strafen ist das Vermeiden von Fehlverhalten durch rechtzeitige Motivierung und Anleitung zu richtigem Tun, durch angemessene Wegweisung oder Ersatzangebote und durch Verminderung kritischer Situationen im Tagesablauf.

14. Sofern das Kind aus den Folgen seines Tuns selber oder durch Wiedergutmachung hinreichende Erfahrung sammeln kann, bedarf es keiner zusätzlichen Strafe.

15. Durch Strafen wird das Beziehungsverhältnis zwischen Kind und Erzieher häufig folgenschwer gestört; die körperliche Strafe, das Einsperren, die Strafarbeit und der Essensentzug bringen zusätzliche Gefahren gerade für das geistig behinderte Kind mit sich und sind daher abzulehnen.

Strafe darf allenfalls zur ‘Grenzmarkierung’ oder zur Verstärkung unzureichend vorhandener ‘Einsicht’ in der Form von zeitlich begrenzter Zuwendungsveringerung, Aufgabenentzug oder Gemeinschaftsentzug erfolgen, sofern keine positiven Möglichkeiten zu dem Zweck mehr zur Verfügung stehen.
 
 
 
 

IV Erzieherhaltung

1. Aufgeschlossenheit und Verständnis des Erziehers für das geistig behinderte Kind sind die Voraussetzung aller erzieherischen Einwirkung.

2. Bestimmtheit des Erziehers gibt dem Kind klare Orientierung und Sicherheit, die ihm sinnvolle Einordnung und Arbeit ermöglicht.

3. Verläßlichkeit und die Konsequenz des Erziehers schaffen das für die Erziehung notwendige Vertrauen des Kindes.

4. Zuversichtlichkeit, Vertrauen zum Kind und entsprechende Ermutigung, die sich auf die wirklich schaffbaren Schritte erstreckt, ermöglichen dem Kind das für weiteres Fortschreiten erforderliche Selbstvertrauen. Nörgelei oder Prophezeiungen von Minderleistungen dagegen lähmen die Entwicklung.

5. Zufriedenheit über jede Leistung, die dem Können des Kindes entspricht, d. h. Anerkennung auch für den kleinsten Fortschritt, schafft das Selbstwertgefühl, das zu weiteren Leistungen beflügelt.
 
 
 
 

V Anderweitige Betreuung

1. Sorgfältige Beaufsichtigung und Behütung vor schädlichen körperlichen Einflüssen sind unerläßlich; auch Nachbarn sollten zu entsprechender Mithilfe ermuntert werden.

2. Bei körperlichen Auffälligkeiten sollte umgehend der Arzt aufgesucht werden.

3. Angesichts der Schwierigkeit der Erziehung des geistig behinderten Kindes ist eine vorsorgliche Inanspruchnahme fachkundiger Erziehungsberatung und die rechtzeitige Anmeldung bei speziellen Erziehungseinrichtungen von besonderer Bedeutung.