Die soziale
Schichtung heute
1. Unsere Gesellschaft ist eine 'offene' Gesellschaft.
Darunter versteht man, dass der soziale Status nicht durch Gesetz,
Abstammung, Rasse usw. festgelegt ist, sondern dass grundsätzlich
jeder die Möglichkeit hat, aufgrund eigener Leistung sozial auf- und
abzusteigen.
2. Es gibt in unserer Gesellschaft kein eindeutiges Kriterium für die Statuszuweisung, wie es in früheren Gesellschaften z. B. oft die Herkunft war. Das wichtigste Merkmal für den Status ist die Berufsposition, die wiederum eng mit Bildung und Einkommen verbunden ist. Die erreichbare Berufsposition wird immer mehr von der Qualifikation (Bildungsabschluss) abhängig, obwohl auch andere Faktoren, wie Herkunft, soziale Beziehungen, persönliche Leistung beim Erreichen einer bestimmten Berufsposition eine gewisse Rolle spielen.
Die Behauptung von Karl Marx, daß
Eigentum oder Nicht-Eigentum an Produktionsmitteln einziges Kriterium für
die Statuszuweisung sei, hat sich nicht bewahrheitet.
3. Es gibt keine klar abgegrenzten Schichten.
Am deutlichsten sind die Schichtgrenzen nach oben und unten.
In der breiten Mitte gibt es zwar viele Differenzierungen, aber immer fließende
Übergänge von sozial ,,Höher und Tiefer" und keine klaren
Grenzen, Je nachdem, mit welchen Menschen man verkehrt, kann der soziale
Status anders sein, In der Arbeitswelt wird der soziale Status meistens
nach der Berufsposition gemessen, in der privaten Welt der Freizeit und
Familie wird der Status mehr und mehr nach dem Aufwand bemessen.
4. Die These von Karl Marx, daß unsere Gesellschaft sich zu
einer Zwei- Klassen-Gesellschaft — Eigentümer
der Produktionsmittel einerseits und besitzlose Arbeiter andererseits —
entwickeln und dass die Mittelschicht allmählich verschwinden würde,
hat sich nicht bewahrheitet. Im Gegensatz zu dieser Behauptung hat sich
die Mitte immer weiter ausgedehnt. Es gibt zwar Gegensätze, es gibt
soziale Differenzierungen, aber nicht im Sinne einer Zwei-Klassen-Gesellschaft.
5. Die meisten Mitglieder unserer Gesellschaft
empfinden ein sozial Höher und Tiefer und ordnen sich selbst auch
darin ein. Die Schichtvorstellungen sind aber nicht bei allen Menschen
gleich. Auch bei ein und demselben Menschen verändern sich diese Schichtvorstellungen
je nach der Situation, in der er mit anderen Menschen zusammen ist.
6. Der Rang, der von den meisten Menschen
als die Mitte des Statusaufbaus gesehen wird (die mittlere Mitte im Zwiebelmodell),
liegt etwas höher als die tatsächliche Mitte (der Punkt im Zwiebelmodell,
oberhalb und unterhalb dessen jeweils 50 % der Bevölkerung liegen).
Das heißt, dass diejenigen, die zu den oberen Schichten gehören,
sich näher zur Mitte einordnen, als es tatsächlich der Fall ist.
Die höheren Schichten unterschätzen ihren hohen Status,
die unteren Schichten überschätzen ihren niedrigen Status.
7. Der Statusaufbau in unserer Gesellschaft befindet sich in einem Wandlungsprozeß.
Durch die Mobilität (horizontale und vertikale) verändert sich der Status des einzelnen, durch die Industrialisierung verändert sich der Status ganzer Gruppierungen von Menschen.
Die Freizeitbeschäftigung gewinnt als Merkmal
für den sozialen Status mehr und mehr an Bedeutung.(Freizeitgesellschaft,
Fun-Gesellschaft usw.)
1. Problematik des Begriffes ,,Schicht"
Wie schon mehrfach erwähnt, ist der Begriff ,,Schicht" problematisch.
Wenn er hier trotzdem verwendet wird, geschieht dies einerseits, weil er
eingebürgert ist, andererseits, weil es keinen geeigneteren Begriff
gibt. Der Begriff ,, Berufsgruppenzugehörigkeit"
ist zu eng, weil er verschweigt, daß in dem Begriff ,,Schicht" häufig
auch andere wichtige soziale Merkmale, wie Einkommen, Bildung, Einfluss
und Ansehen enthalten sind; der Begriff ,,Lebenslage" ist so weit gefaßt,
daß man darunter alles einordnen kann.
2. Problematik des Begriffes ,,schichtspezifisch"
Auch dieses Wort kann zu zahlreichen Missverständnissen führen. Wenn er hier verwendet wird, sagt er nur aus, daß bestimmte Verhaltensweisen in einer bestimmten sozialen Schicht besonders häufig vorkommen.
Unterscheidung zwischen statistischen und kausalen Zusammenhängen
In vielen Untersuchungen zur sozialen Schichtung und Sozialisation wird nachgewiesen, dass bestimmte Verhaltensweisen in einer bestimmten sozialen Schicht viel häufiger vorkommen als in einer anderen sozialen Schicht. So kommt z. B. körperliche Aggressivität viel häufiger in der Unterschicht als in der Mittelschicht vor
In der Statistik gibt es eine bestimmte Methode, um festzustellen, ob solche Unterschiede durch Zufall zu erklären sind oder ob sie irgendeine Ursache haben. Ist letzteres der Fall, spricht man von bedeutsamen Unterschieden (oder signifikanten Unterschieden.)
Mit der Feststellung eines solchen statistischen Zusammenhangs zweier Merkmale --eine bestimmte Verhaltensweise in einer bestimmten Schicht - ist jedoch noch kein ursächlicher Zusammenhang gegeben. Die Erklärung oder Begründung, weshalb diese beiden Merkmale zusammentreffen- zum Beispiel körperliche Aggressivität und soziale Unterschicht - muss dann noch gesucht werden.
Rein theoretisch wäre es möglich, dass das erste Merkmal die Ursache des zweiten ist. Zum Beispiel: die körperliche Aggressivität ist die Ursache der Zugehörigkeit zur sozialen Unterschicht. Oder das zweite Merkmal ist die Ursache des ersten. Zum Beispiel: die Zugehörigkeit zur sozialen Unterschicht ist die Ursache der körperlichen Aggressivität. Eine dritte Möglichkeit besteht darin, daß ein dritter noch unbekannter Faktor die Ursache für beide Merkmale ist. Zum Beispiel: eine geringere Intelligenz ist die Ursache sowohl der körperlichen Aggressivität als auch der Zugehörigkeit zur sozialen Unterschicht.
Welche der theoretischen Möglichkeiten für
einen konkreten Fall der statistischen Zusammenhänge zutrifft, muss
jedesmal eigens untersucht werden.
Beschreibende und statistisch mit der Schicht zusammenhängende Merkmale
Man unterscheidet zweierlei Merkmale der sozialen Schicht:
a) Merkmale, die unmittelbar mit der sozialen Schicht zusammenhängen und letzten Endes eine nähere Beschreibung dessen sind, was soziale Schicht bedeutet;
b) Merkmale, die einen statistischen Zusammenhang
mit der Schichtzugehörigkeit aufweisen, jedoch einer näheren
Begründung bedürfen, weshalb sie in einer Schicht häufiger
vorkommen als in anderen Schichten.
Das ist verständlich, denn in unserer Gesellschaft wird die Schichtzugehörigkeit u. a. am Einkommen gemessen. Jemand verdient nicht weniger; weil er zur Unterschicht gehört, sondern er gehört zur Unterschicht, weil er weniger verdient.
— Die Angehörigen der sozialen Unterschicht haben die körperlich schwerste Arbeit zu verrichten.
Auch das ist erklärbar; denn die Berufe mit der körperlich schwersten Arbeit, ungelernta angelernte und gelernte Arbeiter; werden zur sozialen Unterschicht gerechnet. Jemand muß nicht schwer körperlich arbeiten, weil er zur Unterschicht gehört, sondern er gehört zur Unterschicht, weil er körperlich schwer arbeiten muß.
— Die Angehörigen der sozialen Unterschicht haben die niedrigste Schulbildung.
Auch das versteht sich, weil Bildung in unserer Gesellschaft ein Kriterium für die Schichtzugehörigkeit ist. Der Hauptschulabsolvent hat nicht ,,nur die Hauptschule" besucht, weil er zur Unterschicht gehört, er gehört zur Unterschicht weil er ,,nur die Hauptschule" besucht hat Hier zeigt sich schon eine gewisse Auswirkung der bestehenden sozialen Schichtung. Die Tatsache, daß Eltern zur sozialen Unterschicht gehören, kann dazu beitragen, daß jemand ,,nur die Hauptschule" besuchen kann und er dadurch auch wiederum zur sozialen Unterschicht gehört.
— Die Angehörigen der sozialen Unterschicht haben in unserer Gesellschaft das niedrigste soziale Ansehen.
Auch dies läßt sich erklären, weil
in unserer Gesellschaft Werte wie Bildung, Einkommen, Berufsposition so
hoch geschätzt werden. Deshalb genießen diejenigen, die am wenigsten
an diesen Werten teilhaben, das niedrigste Ansehen. Jemand hat nicht weniger
Ansehen, weil er zur Unterschicht gehört, sondern weil er nach den
vorherrschenden Urteilen der Mitglieder der Gesellschaft weniger geschätzt
wird, bezeichnet man die Gruppe, zu der er gehört, als soziale Unterschicht.
Wenn nun im folgenden von schichtspezifischen Verhaltensweisen die Rede ist, so darf daraus nicht der Schluß gezogen werden, daß sich bei jedem Menschen von vornherein voraussagen läßt, wie er sich verhalten wird, nur weil man weiß, zu welcher sozialen Schicht er gehört.
Die sogenannten schichtspezifischen Verhaltensweisen treffen höchstens für einen bestimmten Kernbereich der einzelnen Schichten zu, am ehesten für die Oberschicht, für die mittlere Mittelschicht und für den unteren Bereich der Unterschicht.
Wenn z. B. in einer empirischen Untersuchung festgestellt wird, daß
in der sozialen Unterschicht mehr körperlich gestraft wird als in
der Mittelschicht, und wenn man von dem Vater eines
Kindergartenkindes weiß, daß er Arbeiter ist, dann darf man
nicht daraus schließen, dass sein Kind zu Hause körperlich gestraft
wird,
b) weil — wenn die Arbeiter zur Unterschicht gerechnet werden — es nicht deutlich ist, ob es sich hier um einen Schichtkern oder um Rand- oder gemischte Gruppen aus dieser Schicht handelt;
c) weil die Tatsache, daß im Durchschnitt in der Unterschicht mehr körperlich gestraft wird als in der Mittelschicht, nicht bedeutet, daß jedes Mitglied dieser Schicht körperlich straft;
d) weil es nicht sicher ist, ob der betreffende
Vater sich an die schichtspezifischen Verhaltensweisen anpaßt oder
von ihnen abweicht.